Die 4 Urtypen des Pferdes
- sabinelagies
- 21. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Aug.
Nach Michael Schäfer – Wie Lebensräume Pferdepersönlichkeiten formten
Warum sehen Pferderassen so unterschiedlich aus? Warum sind manche Pferde robust und ruhig, andere fein und temperamentvoll? Der Pferdeforscher Dr. Michael Schäfer hat auf diese Fragen eine faszinierende Antwort: Er unterscheidet vier Urtypen des Pferdes, die sich aus verschiedenen klimatischen und geografischen Lebensräumen entwickelt haben. Diese Urtypen prägen bis heute das Verhalten, die Gesundheit und die körperlichen Eigenschaften vieler Rassen.

Die Nordpferde
Das Urpony – der Robustling aus kaltem, nassem Klima
Ursprung:
Feuchte, kalte, steinige, wenige bewachsene Regionen Nordeuropas
Heutige Vertreter:
Shetlandpony, Dülmener Wildpferd, Exmoorpony
Physis:
Dichte Knochenstruktur, breite Gelenkflächen
Breiter Rumpf, kurze Gliedmaßen
Kompakter Körperbau mit viel Behang als Witterungsschutz
kleine Ohren (kälteresistent)
Kleine, harte Hufe für die felsigen Böden
Kräftige Kiefer mit großen Zähnen, zum Teil Elchnase zum Anwärmen kalter Luft im Winter und die Futtersuche im Schnee
Psyche:
Eigenständig, willensstark, gelassen
Gute Selbstorganisation (wichtig für alpines Gelände)
Tendenz zur Selbstständigkeit, braucht klare Führung
Besonderheiten:
Diese Pferde sind extrem widerstandsfähig – sie brauchen viel ruhige Bewegung, aber wenig Komfort. Sie sind ideal für Offenstallhaltung und schwieriges Gelände. Allerdings vertragen sie Hitze nur schlecht. In ihren Lebensräumen gab/gibt es sehr wenig hochwertiges Futter wie Gras. Sie sind daher spezialisiert auf ein Überleben mit Moosen, Flechten, etwas Gras. Das macht sie unter unseren Fütterungsbedingungen extrem leichtfuttrig.
Das Ur-Kaltblut
Ursprung:
Tundren Eurasiens, Nordamerika, vermoorte Ränder großer Gebirge
Heutige Vertreter:
alle Kaltblüter wie z.B. Ardenner oder Shire Horses, aber auch Isländer und Haflinger
Physis:
Dichte Knochenstruktur, breite Gelenkflächen
Breiter Rumpf, kurze Gliedmaßen
Kompakter Körperbau mit derbem Langhaar
Kleine Ohren (kälteresistent)
Große Hufe
verschließbare Nüstern zum Schilffressen unter Wasser
Kräftige Kiefer mit großen Zähnen, zum Teil Elchnase zum Anwärmen kalter Luft im Winter und die Futtersuche im Schnee
Psyche:
vorsichtig, überlegt
keine Angst vor morastigen Böden
eher scheu, aber ruhig
zuverlässig
Besonderheiten:
Sie gehen als Erbe ihrer Ahnen bei Angst oder der Flucht rückwärts oder bleiben regungslos stehen. Ihre Hauptgangart ist der Schritt, Galopp kommt freiwillig kaum vor. Sie sind gut geeignet für Anfänger oder ängstliche Reiter. Extrem leichtfuttrig.
Die Südpferde
Der Steppenpferdetyp – Der Dauerläufer der Ebenen
Ursprung:
Trockene Steppenregionen Mittelasiens und Osteuropas mit vielen überständigen, hartstängeligen Gräsern, die Samen tragen
Typische Vertreter:
Sorraia, Achal-Tekkiner, Kiger Mustang, viele Warmblüter
Physis:
grobknochig, trockene Gelenke
Lange, schlanke Beine
Gute Hufqualität (für harte Böden)
langer Kopf mit langen Ohren (Hitzeableitung)
wenig Körpermasse (hitzeverträglich)
Schwerfuttrig
hartes, kräftiges Gebiss
Psyche:
Ausdauernd, schnell, intelligent
Hohe Reaktivität – schnelle Fluchtreaktion
Hohes Bedürfnis nach freier Bewegung
hoher Individualabstand
Besonderheiten:
Diese Pferde sind an weite Räume, Hitze und Hartgräser mit reifen Samen im Überfluss angepasst. Sie sind oft sensibel im Umgang, haben gerne große Abstände zu ihren Gruppenmitgliedern und benötigen am besten sehr spät geschnittenes Raufutter („Heu auf Halmen“), ergänzt mit Hafer. Sie sind der einzige Pferdetyp, der – wenigstens bedingt – an Kraftfuttergaben angepasst ist. Regen ist in ihren Herkunftsgebieten selten weshalb sie schlecht mit nasskaltem Wetter zurecht kommen.
Der Uraraber – ein Sonderfall
Ursprung:
Der Araber hat sich ursprünglich in warmen, feuchten, sehr vegetationsreichen Landstrichen entwickelt. Er ist von allen noch heute lebenden Pferden das ursprünglichste, den kleinen Urpferdchen ähnlichste Pferd.. Er wurde nach Verlust seines Lebensraum domestiziert und eng an den Menschen angeschlossen.
Physis:
Fein gebaut, trockene Haut, klare Adern
Hitzeverträglich
Große Nüstern und Augen – optimale Wahrnehmung im Dämmerlicht der Wälder
Hufe oft klein, aber hart
Zierliches Gebiss (Hauptfutter frisches, weiches Pflanzenmaterial)
Psyche:
Menschenbezogen, intelligent, kooperativ
Starker Bindungswille
Sehr sensible Reaktion auf Stress
Geringer Individualabstand
Besonderheiten:
Diese Pferde lebten eng mit dem Menschen zusammen – oft sogar im Zelt. Sie sind emotional feinfühlig, aber auch hochanpassungsfähig und treu. Ideal für erfahrene Reiter mit ruhiger Hand. Araber können gut robust gehalten werden, benötigen aber Schutz gegen Regen. Sie haben im Verhältnis zur Kopfgröße eine große Gehirn und sind sehr lernfähig.
Warum das Wissen um Urtypen heute noch wichtig ist
Viele heutige Pferderassen lassen sich einem oder mehreren dieser Urtypen zuordnen – auch moderne Sportpferde oder Freizeitkreuzungen. Dieses Wissen hilft dir:
Das passende Pferd für deine Haltung und Nutzung zu finden
Die Gesundheit und Bedürfnisse deines Pferdes besser zu verstehen
Individuelle Fütterung und Pflege anzupassen (z. B. kein Hafer für das Nordpony, keine Boxenruhe für den Steppentyp)
Stressverhalten richtig einzuordnen (z. B. geringer Individualabstand beim Nordtyp, hoher Bewegungsdrang und hoher Individualabstand beim Steppentyp)
Urtypen und Gruppenhaltung – nicht jedes Pferd tickt gleich in der Herde
Auch in der Gruppenhaltung wirken die Prägungen der Urtypen deutlich mit:
Nordtypen wie Isländer oder Fjordpferde sind sehr sozial, haben gerne wenig Individualabstand und reagieren gestresst, wenn andere Pferde sie auf Abstand halten wollen. Sie kommen gut in ruhigen, stabilen Herden mit Gleichgesinnten zurecht.
Steppentypen halten andere gerne „auf Abstand“ und sind schnell in ihrer Reaktion. Sie benötigen klare Strukturen und können bei unklarer Rangordnung leicht nervös oder ranghoch-aggressiv werden.
Der Araber benötigt Kontakt zu „seinem“ Menschen und zu Pferden, die sich ebenfalls gerne bewegen und neugierig sind. Nur an der Raufe herumstehen macht ihn nicht glücklich, sondern nur fett.
Ponys, die auf das Urpony zurückgehen, sind oft eigenständig und robust, kommen gut mit wechselnden Bedingungen zurecht, können aber dominant auftreten und benötigen eine klare Führung, auch innerhalb der Herde.
Die passende Gruppenzusammenstellung und genügend Platz sind entscheidend, um Stress, Verletzungen und Unruhe in Offen- oder Aktivstallgruppen zu vermeiden – und dabei hilft das Wissen um den jeweiligen Urtyp ganz erheblich. Man kann jede Menge Gruppenstress schon allein dadurch vermeiden, dass man die Vorlieben für bestimmt Individualabstände berücksichtigt.
Fazit: Der Ursprung lebt weiter – auch in deinem Pferd
Pferde sind keine beliebig anpassbaren Haustiere. Ihre Psyche, ihr Körperbau und ihre Bedürfnisse sind tief verwurzelt in ihrer ursprünglichen Umgebung. Wer versteht, woher sein Pferd kommt, wird leichter herausfinden, was es wirklich braucht – und bekommt im Gegenzug ein gesünderes, zufriedeneres und vertrauensvolleres Tier.


