Die Illusion Pferdetherapie – Zwischen Fürsorge und Feigenblatt
- sabinelagies
- 27. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Juni
In vielen Ställen gehören Physiotherapeuten, Osteopathen und andere manuelle Therapeuten inzwischen zum festen Bestandteil des Pferdealltags. Regelmäßige Behandlungen, oft im Monatsrhythmus, sind für viele Pferdebesitzer Ausdruck größter Fürsorge: „Mein Pferd bekommt alle vier Wochen seinen Osteopathen!“ Doch was auf den ersten Blick nach liebevoller Zuwendung klingt, wirft bei genauerem Hinsehen grundlegende Fragen auf: Ist das wirklich ein Zeichen für gutes Management? Oder ist der regelmäßige Therapeutenbesuch nicht vielmehr ein Hinweis auf systematische Probleme im täglichen Umgang, Management oder Training des Pferdes?

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Was kann Manualtherapie leisten?
Die manuelle Therapie – dazu zählen u.a. Physiotherapie, Osteopathie, Chiropraktik – zielt darauf ab, Blockaden zu lösen, die Beweglichkeit zu verbessern und Spannungen auszugleichen. Richtig eingesetzt, kann sie akute und subakute Probleme lindern und ein wertvolles Werkzeug zur Rehabilitation sein. Studien belegen, dass gezielte manuelle Therapie bei bestimmten Indikationen wie Rückenschmerzen, Lahmheiten ohne klare orthopädische Ursache oder muskulären Dysbalancen zu messbaren Verbesserungen führen kann (siehe z.B. Haussler et al. 2007, Dyson et al. 2018).
Aber – und das ist der entscheidende Punkt – diese Therapien können nicht ersetzen, was das Pferd täglich bräuchte: eine sinnvolle, gesunderhaltende Gymnastizierung.
Therapie ersetzt kein gutes Reiten
Wenn ein Pferd regelmäßig verspannt ist, wiederkehrende "Blockaden" zeigt oder „ständig schief“ ist, stellt sich nicht die Frage welcher Therapeut es behandeln sollte, sondern warum es überhaupt dauerhafte Therapie braucht. Pferde sind von Natur aus schief – das ist kein pathologischer Zustand, sondern eine biologische Gegebenheit, die durch korrektes Reiten, Bodenarbeit und gute Haltung ausgeglichen werden kann und auch muss, will man das Pferd reiten.
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Wenn allerdings tägliches Reiten eher verkrampft statt gymnastiziert, wenn das Training das Pferd verspannt anstatt es zu lösen – dann wird das Pferd krank. Und dann wird die Therapie zur Symptombehandlung, nicht zur Lösung.
Nachhaltigkeit – oder nur Kreislauf?
Eine entscheidende Frage lautet: Wie nachhaltig ist die Therapie? Ein gut gearbeiteter Therapieansatz bringt spürbare Besserung – und ermöglicht es dem Pferd, mit gezieltem Training dauerhaft gesünder zu werden. Doch in der Realität sieht es oft anders aus: Das Pferd läuft nach der Behandlung ein paar Tage freier – dann kehren die Probleme zurück. Ein Kreislauf entsteht.
„Das Pferd ist einfach so, das braucht seine Behandlung“, heißt es dann. Aber kein Pferd muss dauerhaft in Therapie sein, wenn Haltung, Ausrüstung, Training und Reiterverhalten stimmen.
Wissenschaftliche Untersuchungen (u.a. Greve & Dyson, 2014) zeigen: Viele gesundheitlichen Probleme beim Reitpferd haben ihre Ursache in falscher oder unzureichender Bewegung. Verspannungen und Rückenschmerzen entstehen vor allem dann, wenn das Pferd dauerhaft mit belastendem Reitergewicht zu kämpfen hat, ohne korrekt über den Rücken zu gehen. Das wiederum hängt stark vom Können (und der Eigenwahrnehmung) des Reiters ab – ein Aspekt, den kaum ein Therapeut „wegmassieren“ kann.
Pferdetherapie als Feigenblatt?
In vielen Fällen dient die regelmäßige Behandlung mehr dem Beruhigen des Gewissens als dem Wohl des Pferdes. Die eigentlichen Ursachen – unpassende Sättel, schiefe Reiter, schlecht gerittene Pferde – bleiben unangetastet. Und weil der Therapeut das Problem nicht langfristig lösen kann, wird er zum regelmäßigen "Reparaturbetrieb" bestellt.
Die Illusion entsteht: Weil das Pferd regelmäßig behandelt wird, ist es gut versorgt. Doch das Gegenteil kann der Fall sein: Gute Reiter erkennt man nicht daran, dass ihre Pferde einen festen Physio-Terminplan haben – sondern daran, dass ihre Pferde gesund und losgelassen laufen, ohne dauerhafte therapeutische Begleitung.
Was wäre wirklich pferdegerecht?
Bessere Reitausbildung – für Pferd und Reiter
Längere Aufwärmphasen und vielfältiges Training (Bodenarbeit, Gelände, Longieren mit Sinn)
Passende Ausrüstung – regelmäßig kontrolliert
Bewegungsfreundliche Haltung mit Sozialkontakt und ausreichend Platz
Gezielte Therapie, wenn tatsächlich etwas nicht stimmt – nicht „auf Verdacht“
Zwischen Kompetenz und Kaffeesatz – Wie erkennt man seriöse Therapeuten?
Der Markt für Pferdetherapie boomt – siehe oben. Entsprechend groß ist die Bandbreite an Angeboten. Zwischen fundiert ausgebildeten Physiotherapeuten, Tierärzten mit Zusatzqualifikation, Osteopathen mit anatomischem Fachwissen und solchen, die nach einem Wochenendkurs energetisch „ausgleichen“, ist alles dabei. Für den Laien ist die Unterscheidung oft schwer – doch es lohnt sich, genau hinzusehen.
Kennzeichen seriöser Pferdetherapeuten
Sie arbeiten mit dem Tierarzt zusammen, nicht gegen ihn.
Sie stellen keine Diagnosen, sondern beschreiben Beobachtungen – und verweisen bei Verdacht auf Pathologien stets an den Tierarzt.
Sie erklären, was sie tun, und geben Übungen oder Trainingshinweise mit.
Sie hinterfragen das Training, die Ausrüstung und die Haltungsbedingungen – anstatt Symptome nur „wegzudrücken“.
Sie arbeiten nicht regelmäßig wiederkehrend am selben Pferd, sondern suchen nach Lösungen, um Beschwerden zu vermeiden.
Vorsicht ist geboten bei Therapeuten, die:
sich pauschal gegen Tierärzte aussprechen („Die bringen eh nichts“),
mit „Energien“, „Blockaden“ und „Chakren“ argumentieren, ohne anatomisch konkret zu werden,
das Pferd regelmäßig „einrenken“, ohne langfristige Veränderung zu erzielen,
dem Reiter suggerieren, das Pferd „wolle nicht arbeiten, weil es traumatisiert sei“ – ohne Training, Ausrüstung oder reiterliches Können zu prüfen.
Die oft vergessene Instanz: Der Tierarzt
In der Begeisterung für alternative Methoden gerät der Tierarzt manchmal ins Hintertreffen. Doch bei anhaltenden oder wiederkehrenden Beschwerden sollte immer ein Tierarzt die erste Anlaufstelle sein – auch, um schwerwiegendere Probleme wie Lahmheiten, Kissing Spines oder degenerative Erkrankungen auszuschließen. Die Kombination aus tierärztlicher Diagnose und begleitender manualtherapeutischer Behandlung kann, wie bereits oben ausgeführt, sehr effektiv sein – wenn beide Seiten miteinander arbeiten.
Ein Beispiel: Viele Pferde zeigen Verspannungen im Rücken. Doch ob diese durch Muskelarbeit, einen schlecht passenden Sattel oder durch eine beginnende Lahmheit (z. B. Hufrolle oder Spat) entstehen, kann nur der Tierarzt klären. Alles andere ist bestenfalls Spekulation, schlimmstenfalls gefährlich.
Schlusswort: Verantwortung statt Routine
Pferdetherapie ist kein Allheilmittel – und sollte nicht zum festen Ritual ohne Anlass werden. Wer seinem Pferd wirklich Gutes tun will, sorgt für eine fundierte Ausbildung, einen passenden Sattel, eine gute Haltung und reitet mit Gefühl, Wissen und Demut.
Therapeuten können helfen. Aber sie können nicht kompensieren, was im täglichen Umgang schiefläuft. Wer das verstanden hat, ist auf dem Weg zu echter Pferdefürsorge – jenseits von schönen Worten und wiederkehrenden Terminen.
Wer glaubt, sein Pferd sei mit regelmäßiger Therapie automatisch „in guten Händen“, sitzt einer gefährlichen Illusion auf.
Quellen und Studien:
Haussler KK et al. (2007): Effects of Chiropractic, Massage and Stretching Therapy on Equine Back Pain.
Dyson S et al. (2018): Saddle fit and back pain in sport horses.
Greve L & Dyson S (2014): The interrelation between saddle fit and equine back pain.
Stubbs NC et al. (2011): Equine dynamic mobilisation exercises increase multifidus cross-sectional area.


