Kissing Spines beim Pferd – Ursachen, Risikofaktoren & Trainingsansätze
- sabinelagies
- 4. Aug.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Aug.
„Kissing Spines“ ist die umgangssprachliche Bezeichnung für das Impingement-Syndrom der Dornfortsätze – also das schmerzhafte Aneinanderstoßen oder sogar Überlappen der knöchernen Fortsätze der Brust- und Lendenwirbelsäule. Es handelt sich nicht um eine seltene Diagnose: Studien zeigen, dass selbst bei klinisch unauffälligen Pferden radiologisch häufig Veränderungen im Bereich der Dornfortsätze zu finden sind (Jeffcott, 1980; Walmsley et al., 2002).
Doch nicht jede Röntgenveränderung ist automatisch pathologisch – entscheidend ist, ob sie mit Schmerzen und Rittigkeitsproblemen einhergeht. Und genau hier wird es spannend: Denn viele dieser Probleme haben mit Körperbau, Haltung, Ausrüstung und Training zu tun – und sind somit zum Teil vermeidbar.

Ursachen und Risikofaktoren
1. Körperbau: Zu kurz, zu steil, zu eng?
Ein wesentlicher Risikofaktor für Kissing Spines ist der Körperbau. Besonders gefährdet sind Pferde mit:
Kurzem Rücken – hier liegen die Dornfortsätze enger beieinander, was das Risiko für Berührungen erhöht.
Steil stehenden Dornfortsätzen – diese bieten weniger Raum zwischen den Knochen.
Schwacher Rückenmuskulatur – ohne muskuläre Stabilisierung kommt es eher zu Fehlbelastungen und Kompressionen.
Tiefer Lendenpartie oder „Senkrücken“ – diese Pferde stehen oft dauerhaft unter Spannung im Rückenbereich.
Studien belegen, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen Körperbau und Auftreten von Kissing Spines gibt (Zimmermann et al., 2012). Besonders Sportpferde mit „kompaktem“ Rücken sind gefährdet – aber auch Vollblüter mit schlechter Bemuskelung.
2. Haltung und Ausrüstung
Schlechtsitzende Sättel können die Rückenmuskulatur blockieren und Verspannungen fördern.
Boxenhaltung mit Bewegungsmangel fördert muskuläre Dysbalancen.
Fehlanpassungen der Hufe oder dauerhaftes Überlasten einzelner Strukturen (z. B. durch unpassendes Reitergewicht) wirken sich negativ auf die gesamte Statik aus.
3. Training: Reiten als Ursache oder Lösung?
Unpassendes Training ist einer der häufigsten Auslöser für die Schmerzsymptomatik bei Kissing Spines:
Falsches Longieren (hoher Kopf, gespannter Rücken) verstärkt den Druck im Wirbelsäulenbereich.
Fehlende Gymnastizierung – ohne gezieltes Training der Bauch- und Rückenmuskulatur kommt es zur Überlastung der passiven Strukturen.
Zwangshaltung durch Hilfszügel oder mechanisches Einrollen verschärfen das Problem.
Die gute Nachricht: Richtiges Training ist auch ein zentraler Teil der Therapie – und in vielen Fällen erfolgreicher als eine Operation.
Was Studien sagen
In einer Studie von Walmsley et al. (2002) wurden 443 Pferde radiologisch untersucht – 39 % zeigten Veränderungen an den Dornfortsätzen, bei vielen davon ohne klinische Symptome. Eine andere Untersuchung (Haussler & Stover, 1998) zeigte, dass etwa 70 % der betroffenen Pferde mit konservativer Therapie (Physiotherapie, korrektes Reiten) langfristig wieder belastbar waren.
Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass Kissing Spines nicht zwingend ein Karriereende bedeuten – sofern Haltung und Training angepasst werden. Besonders wichtig: die Arbeit über den Rücken, die Förderung der Tragkraft und eine gute Reitweise.
Trainingsansätze bei (und zur Vorbeugung von) Kissing Spines
1. Stabilisierung statt Kompensation
Ziel ist es, die tiefe Rumpfmuskulatur zu aktivieren, damit sie die Wirbelsäule stabilisiert – anstatt die Dornfortsätze gegeneinander drücken zu lassen. Hilfreich sind:
Übergänge in Selbsthaltung
Seitengänge (Schulterherein, Travers)
Arbeit am Hang (bergauf)
Bodenarbeit mit Fokus auf Balance und Koordination
2. Dehnung und Losgelassenheit
Pferde mit entspannter Oberlinie und gedehntem Hals „heben“ den Rücken – dadurch entfernen sich die Dornfortsätze wieder voneinander. Wichtig ist, dass die Dehnung aktiv und durch den Schub aus der Hinterhand entsteht – nicht durch Zug am Zügel.
3. Langsamer Muskelaufbau statt schnelles Ergebnis
Besonders nach längerer Pause oder Diagnose ist Geduld gefragt. Der Muskelaufbau dauert – schnelles „Draufsetzen“ nach Schonung kann mehr schaden als nützen.
4. Interdisziplinäre Begleitung
Physiotherapie, Osteopathie, Sattelanpassung und Hufpflege sind entscheidend für einen nachhaltigen Trainingserfolg. Auch Tierärzte setzen zunehmend auf Kombinationen aus konservativer Therapie und gezieltem Muskeltraining statt auf Operationen.
Fazit: Ein Rückenthema mit vielen Einflussfaktoren
Kissing Spines entstehen nicht über Nacht – und sie bedeuten nicht das Aus. Doch sie sind ein Spiegelbild vieler typischer Pferdeprobleme: unpassende Haltung, überforderndes Reiten, fehlendes Körperbewusstsein.
Ein guter Pferderücken braucht Zeit, Wissen und ein feines Gefühl. Mit durchdachtem Training, pferdegerechter Haltung und einem Blick für das einzelne Pferd lassen sich viele Rückenprobleme vermeiden – oder sogar deutlich verbessern.
Literatur & Quellen (Auswahl):
Jeffcott, L.B. (1980): Back problems in the horse – A survey of 443 cases. Equine Veterinary Journal.
Walmsley, J.P. et al. (2002): Retrospective study of impinging dorsal spinous processes in the thoracolumbar spine of the horse. Equine Veterinary Journal.
Haussler, K.K., Stover, S.M. (1998): Back problems in horses. In: Equine Veterinary Education.
Zimmermann, C.C. et al. (2012): Relationship between conformation and kissing spines in warmblood horses.
Tipp für Reiter:
Nicht jeder Rücken ist gleich – und nicht jede Lahmheit kommt vom Bein. Lass regelmäßig einen Blick auf Sattel, Hufe und Trainingsweise werfen. Ein funktioneller Pferderücken ist kein Zufall, sondern Ergebnis guter Teamarbeit.