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Versammlung: Was ist das?

Aktualisiert: 13. Aug.

Versammlung gilt als die hohe Schule der Reitkunst – aber was passiert dabei eigentlich im Pferdekörper? Welche biomechanischen Veränderungen gehen mit echter Versammlung einher, und wie wirken sich diese auf die Muskulatur, die Bewegung und die Tragfähigkeit des Pferdes aus? In diesem Artikel schauen wir genau hin – differenziert, anatomisch fundiert und pferdegerecht.


Haflinger

Versammlung ist keine Haltung, sondern Bewegung


Viele Reiter stellen sich Versammlung als eine Art „Haltung“ vor, in der das Pferd mit hochgezogenem Kopf und gekipptem Becken durch die Bahn schwebt. Doch dieser statische Eindruck ist trügerisch. In Wahrheit ist Versammlung eine hochdynamische, fein austarierte Bewegungsform, bei der das Pferd mehr Last auf der Hinterhand aufnimmt, die Vorderhand entlastet und sich selbst trägt, statt vom Reiter gehalten zu werden.


1. Das Becken kippt – aber nicht dauerhaft

Ein zentrales Merkmal der Versammlung ist das Abkippen des Beckens nach hinten-unten (posterior pelvic tilt). Dabei bewegen sich die Darmbeinschaufeln nach hinten, das Kreuzbein richtet sich leicht auf, und das lumbosakrale Gelenk wird stärker gebeugt. So können die Hinterbeine vermehrt unter den Schwerpunkt treten und Last aufnehmen.

Aber: Das Becken bleibt nicht starr gekippt. Es bewegt sich rhythmisch mit, im Einklang mit der Bewegung der Wirbelsäule, der Hinterbeine und des gesamten Körpers. Eine dauerhaft festgehaltene Beckenkippung – etwa durch falsche Hilfengebung, „Setzenwollen“ oder zu viel Spannung – führt zu Verspannung, Verlust der Rückentätigkeit und im schlimmsten Fall zu Lahmheiten oder Rittigkeitsproblemen.


2. Bauch- und Rückenmuskulatur arbeiten im Wechselspiel


Versammlung ist keine Dauerspannung – sie ist ein harmonisches Wechselspiel von

Anspannung und Entspannung, das im gesamten Rumpf stattfindet:

  • Die Bauchmuskulatur hebt den Rumpf und stabilisiert die Wirbelsäule.

  • Die tiefen Rückenmuskeln (z. B. multifidus, iliocostalis) koordinieren kleinste Bewegungen der Wirbelkörper.

  • Die Rückenstrecker dürfen nicht verkrampfen – sie sollen federnd mitarbeiten und die Bewegung durchlassen.


Diese fein abgestimmte muskuläre Balance ist entscheidend, damit das Pferd seinen Rücken aufwölben, das Brustbein heben und den Reiter gesund tragen kann. Bei fehlender Koordination oder zu viel Spannung (z. B. durch festgehaltenen Zügel oder blockierten Rumpf) kann das Pferd seinen Rücken nicht mehr sinnvoll einsetzen – die Versammlung wird zur Kompensation statt zur Entlastung.


3. Die Hinterhand tritt unter – die Vorhand wird frei

In der Versammlung verkürzt sich der Raumgriff der Hinterbeine nicht, wie oft fälschlich angenommen wird – im Gegenteil: Die Hinterhand tritt vermehrt unter den Körper, die Gelenke beugen sich stärker, und das Pferd nimmt mehr Last hinten auf. Gleichzeitig hebt sich der Rumpf zwischen den Schulterblättern, was zur Entlastung der Vorhand führt.

Dadurch wird das Gleichgewicht des Pferdes neu verteilt: von einem horizontalen in ein „bergauf“-Gleichgewicht. Die Bewegungen wirken leicht, elegant und kraftvoll – aber nur, wenn das Pferd nicht einfach „kurz gemacht“, sondern von hinten nach vorn gymnastiziert wird.


4. Die Oberlinie dehnt sich – statt sich zu verkürzen

Ein häufiger Irrtum: Viele glauben, Versammlung bedeute, dass das Pferd „sich zusammenzieht“. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Nur wenn sich die Oberlinie dehnen kann, kann der Rücken sich wölben, das Becken frei kippen und der Rumpf heben. Das Pferd braucht eine elastische Dehnungslinie vom Hinterbein über die Kruppe, den Rücken bis ins Genick.

Blockieren Zügel, Reiterhand oder falsch verstandene „Anlehnung“ diese Dehnung, kann das Pferd sich nicht versammeln – es wird steif, eng und verspannt. Echte Versammlung zeigt sich daran, dass das Pferd leicht, schwingend und selbsttragend ist – mit einem aktiven Rücken und offenem Genick.


5. Versammlung als funktionelle Balance

Versammlung ist also keine Pose, sondern eine funktionelle Balance aus:

  • Tragkraft statt Vorwärtsschub

  • Mobilität statt Festhalten

  • Koordination statt Kraft

  • Bewegung statt Spannung

Sie ist das Ergebnis eines langen, systematischen Trainingswegs. Nur wenn das Pferd alle vorbereitenden Bausteine (z. B. Rumpfstabilität, Gleichgewicht, Mobilität der Lendenwirbelsäule, beidseitige Balance) entwickelt hat, kann es sich gesund versammeln – ohne sich zu verspannen oder Schaden zu nehmen.


6. Was sagt die Wissenschaft?

Studien mit Motion-Capture-Systemen und EMG (Elektromyografie) bestätigen:

  • In der Versammlung wird das Becken nach hinten gekippt, die Beugung im Hüftgelenk und Sprunggelenk nimmt zu.

  • Die Bauchmuskulatur zeigt erhöhte Aktivität (Clayton et al., 2001).

  • Die Schrittlänge der Hinterhand verkürzt sich leicht, aber die Trittfrequenz und der Grad der Gelenkbeugung steigen.

  • Pferde in korrekter Versammlung zeigen mehr Rückentätigkeit – nicht weniger.


Fazit: Versammlung ist eine dynamische, lebendige Bewegung

Das gekippte Becken ist ein Zeichen der Versammlung, aber kein Dauerzustand. Der Pferdekörper bleibt auch in der Versammlung in ständiger Bewegung. Bauch- und Rückenmuskulatur arbeiten fein abgestimmt zusammen, um das Gleichgewicht zu halten – ohne in Dauerspannung zu verfallen. Echte Versammlung ist keine Haltung, sondern eine Fähigkeit: die Fähigkeit des Pferdes, sich selbst zu tragen, den Reiter zu tragen und dabei locker, elastisch und kraftvoll zu bleiben.


Studienübersicht: Was Forschung über Versammlung zeigt


Hier ein Überblick über einige zentrale Studien zur Biomechanik der Versammlung beim Pferd:


Clayton et al. (2001):

„Electromyographic analysis of the longissimus dorsi muscle in the horse during walking and trotting“

  • EMG-Messung der Rückenmuskulatur beim Reiten.

  • In der Versammlung zeigen Pferde erhöhte Muskelaktivität in der Bauchmuskulatur und eine Abnahme der Rückenstreckung, was auf Rumpfhebung und stabilisierende Muskelarbeit hinweist.


Gómez Álvarez et al. (2006):

„Back motion in the horse during trot in-hand and on the lunge“

  • Bewegungsanalyse im Trab, u. a. mit Fokus auf die Lendenwirbelsäule.

  • Zeigt, dass die Beweglichkeit der Lendenregion und des Beckens entscheidend für die Rückenaktivität ist – besonders bei versammelnden Bewegungen.


Hodson et al. (2000):

„Forces acting on the horse's back during rising and sitting trot“

  • Kraftmessungen zeigen, dass bei gut trainierten Pferden mit aktiver Rumpfstabilisierung die Belastung der Wirbelsäule deutlich reduziert ist.

  • In Versammlung ist die Kraftverteilung gleichmäßiger, da das Pferd sich selbst trägt.


Pfau et al. (2011):

„Quantitative assessment of back movement in the horse: implications for training and performance“

  • Motion-Capture-Analyse der Wirbelsäulenbewegung bei verschiedenen Gangarten.

  • In der Versammlung zeigen Pferde eine veränderte Bewegungsfrequenz der Rückenregion, insbesondere im Bereich Lendenwirbelsäule und Becken – Zeichen funktioneller Versammlungsarbeit.


Diese Studien machen deutlich: Versammlung ist messbar – und sie ist kein statischer Zustand, sondern ein koordiniertes Zusammenspiel von Muskelarbeit, Bewegungskontrolle und biomechanischem Gleichgewicht.

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