Wie viel und welches Training braucht ein Reitpferd, um gesund zu bleiben?
- sabinelagies
- 9. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
Viele Reiter wünschen sich vor allem eines: ein gesundes, leistungsbereites Pferd, das viele Jahre lang Freude bereitet – im Gelände, auf dem Platz oder im Viereck. Doch häufig wird unterschätzt, wie viel gezieltes Training notwendig ist, damit ein Pferd den Menschen überhaupt schadlos tragen kann. Denn: Pferde sind von Natur aus nicht dafür gebaut, Reitergewicht zu tragen. Anatomisch betrachtet sind sie Lauftiere, nicht Lastenträger.
Was also braucht ein Pferd, um dauerhaft gesund geritten zu werden?

Pferde sind keine Tragtiere – ein Blick auf die Anatomie
Pferde sind von Natur aus auf horizontale Fortbewegung spezialisiert. Ihr Rumpf hängt zwischen den Vorderbeinen wie eine Hängematte – ohne knöchernen Zusammenhang zum Schulterblatt. Anders als Kamele oder Esel haben Pferde keine anatomischen Strukturen, die das Tragen von Lasten erleichtern würden. Reitergewicht belastet in erster Linie die Wirbelsäule und die empfindlichen Strukturen rund um den Schultergürtel und die Lendenpartie. Deshalb ist es essenziell, dass ein Pferd vor dem regelmäßigen Reiten die nötige Balance und Koordination entwickelt hat. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Dreijährige noch lange nicht ausgewachsen und entsprechend belastbarer sind
Tragkraft muss erarbeitet werden
Um ein Pferd gesund zu reiten, muss es lernen, sich anders zu bewegen als in freier Wildbahn. Das Ziel ist nicht die Leistungssteigerung im klassischen Sinne, sondern der Erhalt der körperlichen Unversehrtheit unter dem Reiter. Dafür braucht es:
Horizontales Gleichgewicht: Das Pferd muss lernen, das Reitergewicht nicht nach vorne auf die Vorhand zu verlagern, sondern gleichmäßig über alle vier Beine zu verteilen.
Rumpfhebung: Nur ein aktiver Bauchmuskeltonus und eine gehobene Brustwirbelsäule entlasten die empfindlichen Dornfortsätze und Bandscheiben.
Beckenbeweglichkeit und Hinterhandaktivität: Die Kraft muss aus der Hinterhand kommen – nicht aus den Vorhandmuskeln.
Koordination und Körperwahrnehmung: Je besser ein Pferd sich selbst balancieren kann, desto leichter fällt es ihm, einen Reiter gesund zu tragen.
Gutes Training versetzt also ein Pferd überhaupt erst in die Lage, einen Reiter gesund tragen zu können und als Reitpferd unbeschadet alt zu werden.
Ist Versammlung nötig – oder reicht das horizontale Gleichgewicht?
Die Versammlung im klassischen Sinne – also das vermehrte Lastaufnehmen der Hinterhand mit Aufrichtung der Vorhand – ist ein fortgeschrittener Zustand von Balance und Kraft. Für ein Freizeitpferd, das nicht im Spitzensport unterwegs ist, ist eine hohe Versammlung nicht notwendig. Es kann trotzdem ein Leben lang ein gesundes, zufriedenes Reitpferd sein.
Was jedoch zwingend erforderlich ist, ist ein stabiles horizontales Gleichgewicht und die Fähigkeit, den Brustkorb zu heben.
Dabei wird der Brustkorb aber nicht dauerhaft angehoben, sondern er hebt und senkt sich rhythmisch, da die Bauch- und die Rückenmuskulatur sich abwechselnd an- und abspannen. Diese Basistragkraft ist das Fundament jeder weiteren Ausbildung – egal ob fürs Gelände, Dressur oder Springen. Pferde, die in Vorhandlast geritten werden, kompensieren über lange Zeit mit Verspannungen, Lahmheiten oder Rittigkeitsproblemen – oft erst schleichend sichtbar.
Wie kommt man dahin? Trainingsweg in Etappen
1. Bodenarbeit & Longenarbeit
Bevor ein Pferd überhaupt regelmäßig geritten wird, sollte es lernen, sich an der Hand oder an der Longe ausbalanciert zu bewegen. Hier wird die Grundlage für Muskulatur, Koordination und Losgelassenheit gelegt. Wichtig: Keine stundenlangen Longeneinheiten in Ausbindern, sondern fein differenzierte Arbeit mit dem Ziel der aktiven Selbsthaltung.
Achtung: Der entscheidende Schritt zur Tragkraft erfolgt aber immer erst unter Reitergewicht, sonst bleibt es bei Gymnastizierung ohne Last.
Lastentragen kann das Pferd nur lernen, indem es eine Last trägt - immer angepasst an das, was es schon an Kraft hat. Das ist so ähnlich wie das Tragen eines schweren Rucksacks: Auch das kann man nicht trainieren, ohne ihn zu tragen. Und schon gar nicht kann man auf einem ebenen Sportplatz lernen, diesen Rucksack trittsicher über viele verschiedene Geländefomationen und durch Kurven zu tragen.
2. Gymnastizierende Arbeit unter dem Sattel
Frühestens, wenn das Pferd an der Longe oder an der Hand gelernt hat, seinen Rumpf zu heben und auf- und abschwingen zu lassen, sowie die Hinterhand aktiv einzusetzen, kann es unter dem Sattel weiterarbeiten. Schritt, Trab und Galopp in taktreiner, schwungvoller und ausbalancierter Ausführung sind dabei wichtiger als spektakuläre Lektionen. Und bitte nicht sofort in 45-Minuten-Einheiten arbeiten. Das würde eine immense Überforderung des noch nicht tragefähigen Pferdes darstellen. Einige wenige Minuten mit ausreichenden Regenerationspausen reichen am Anfang völlig aus.
3. Abwechslung & Gelände
Geländearbeit auf variierendem Boden stärkt nicht nur Muskeln, Sehnen und Gelenke, sondern fordert auch Gleichgewicht und mentale Ausgeglichenheit. Hügelarbeit, Übergänge und gebisslose Arbeit im Gelände können ein echter Zugewinn sein – vorausgesetzt, das Pferd kann sich auch dort korrekt tragen. Was einem Pferd im Gelände schadet: Ausschließliches "Dahinlatschen" im Schritt. Dabei fehlt die für das Tragen des Reitergewichts nötige Grundspannung und das Pferd schleppt den Reiter in Kompensationshaltungen.
Studien und wissenschaftliche Hintergründe
Studien wie die von Dr. Hilary Clayton und Dr. Gerd Heuschmann zeigen, wie sich die Belastung auf die Pferdewirbelsäule unter dem Reiter verändert. Besonders betont wird dabei die Rolle der Bauch- und Rückenmuskulatur sowie der korrekten Aufrichtung – nicht über die Zügel, sondern über die Hinterhand.
Clayton (2010) wies z. B. nach, dass eine unzureichend entwickelte Bauchmuskulatur die Wirbelsäule des Pferdes durchhängen lässt, was auf Dauer zu degenerativen Prozessen führen kann. Heuschmann beschreibt zudem, wie falsches Reiten in Vorhandlast zu Überlastung der unteren Gliedmaßen und des Buggelenks.
Wie viel Training braucht ein Reitpferd, um gesund zu bleiben?
Nicht nur das wie, sondern auch das wie oft ist entscheidend:
2–4 Einheiten pro Woche reichen für ein Freizeitpferd aus, wenn sie gut strukturiert sind.
Qualität vor Quantität: Zehn Minuten bewusste Gymnastizierung sind mehr wert als eine Stunde planloses Reiten.
Regelmäßige Pausen und Tage zum Muskelaufbau ohne Belastung (z. B. Spaziergänge oder Weidezeit) sind wichtig für Regeneration.
Fazit
Ein Pferd braucht gezieltes, durchdachtes Training, um den Reiter langfristig gesund tragen zu können. Versammlung im hohen Sinne ist dabei kein Muss – wohl aber die Fähigkeit, sich im Gleichgewicht zu bewegen, den Rumpf zu heben und die Hinterhand zu nutzen. Wer frühzeitig in diese Basics investiert, spart sich viele spätere Probleme – körperlich und mental. Und schenkt dem Pferd die Möglichkeit, mit Freude bei der Arbeit zu sein.
Tipp für Reiter: Hinterfrage nicht nur was du reitest, sondern wie. Denn oft liegt der Schlüssel zur Gesundheit deines Pferdes nicht im, sondern unter dem Sattel.
Literatur:
Clayton, Hilary M. (2010).Dynamic mobilizations in cervical flexion: Effects on flexion of the cervical and thoracic regions of the spine. Equine Veterinary Journal, 42(Suppl. 38), 688–694. https://doi.org/10.1111/j.2042-3306.2010.00196.x
Heuschmann, Gerd (2006).Tug of War – Classical versus “Modern” Dressage. Wu-Wei Verlag, Warendorf.
Heuschmann, Gerd (2012).Balanceakt: Klassische Reitkunst – pferdegerecht, zeitgemäß, gesund. Wu-Wei Verlag, Warendorf.
Kienapfel, Katharina (2017).Reitweisen im Vergleich – Auswirkungen auf Pferd und Reiter. Meyer & Meyer Verlag, Aachen.
Hausherr, Jean-Marie (2009).Biomechanik und Reitkunst. FN-Verlag, Warendorf.


