Das Fluchttier Pferd – Verstehen, wie Pferde denken und handeln
- sabinelagies
- 23. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Pferde begleiten den Menschen seit Jahrtausenden. Sie haben ihre Reiter in Kriege getragen, Felder gepflügt und Kinderherzen höher schlagen lassen. Doch so nah uns das Pferd auch ist – sein Wesen bleibt oft missverstanden. Um pferdegerecht zu reiten, zu trainieren oder einfach nur mit dem Pferd zusammen zu sein, muss man eines verstehen und akzeptieren: Das Pferd ist ein Fluchttier. Doch was bedeutet das eigentlich?

Was ist ein Fluchttier?
Ein Fluchttier ist ein Tier, dessen Überlebensstrategie in freier Wildbahn auf der Fähigkeit zur schnellen Flucht basiert. Im Gegensatz zu Raubtieren, die Angriff als Option haben, flieht ein Fluchttier bei Gefahr. Evolutionär gesehen war das für Pferde überlebenswichtig: Nur wer schnell reagiert und schneller läuft als der Angreifer, hat eine Chance, zu überleben. Diese Reaktionsmuster sind tief im Nervensystem des Pferdes verankert – auch wenn heute keine Raubtiere mehr auf der Weide lauern. Wenn etwas raschelt oer flattert, rennt das Pferd – und schaut dann. Der umgekehrte Modus würde womöglich im Magen des Verfolgers enden.
Was bedeutet "Sicherheit" für ein Fluchttier?
Für ein Fluchttier wie das Pferd ist Sicherheit das höchste Gut. Sicher fühlt es sich dann, wenn es weit sehen kann, seine vertraute Herde um sich hat und nicht Ungewöhnliches passiert. Pferde scannen ihre Umwelt ununterbrochen auf kleinste Veränderungen – Gerüche, Geräusche, vor allem Bewegungen. Ein raschelndes Blatt, eine Plastiktüte oder ein Vogel, der auffliegt, kann für ein Pferd potenziell lebensbedrohlich wirken.
Sicherheit bedeutet für ein Pferd:
Vorhersehbarkeit (Routine, Rituale, gleichbleibende Abläufe)
Körpersprachliche Klarheit (eine stabile Herde mit souveränen Chefs – oder ein entsprechend klarer Mensch - vermittelt Sicherheit)
Körperspannung und Stimmung der Herdenmitglieder bzw. des Menschen ( innerhalb einer Herde werden Stimmungen in Millisekunden übertragen, ebenso überträgt ein ängstlicher Mensch sofort "drohende Gefahr")
Wie reagiert das Fluchttier Pferd in Gefahrensituationen?
Kommt ein Pferd in eine Situation, die es nicht einschätzen kann, reagiert es blitzschnell, intuitiv und ohne zu überlegen.
Die typischen Reaktionen sind:
Erstarren und horchen (die Umgebung wird überprüft)
Flucht (weglaufen – schnell und oft unkontrolliert)
Abwehr (in der Enge auch mal treten oder steigen, wenn Flucht nicht möglich ist)
Das Gehirn schaltet dabei vom denkenden Teil (Großhirn) auf den reflexgesteuerten Teil (Reptiliengehirn) um. Rationales Denken ist dann nicht mehr möglich – das Pferd „reagiert nur noch“. Das erklärt, warum man mit einem panischen Pferd weder diskutieren noch trainieren kann.
Wie sieht ein Fluchttier?
Pferde sehen anders als wir. Ihre Augen sitzen seitlich am Kopf, wodurch sie ein sehr großes Sichtfeld haben – fast 350 Grad Rundumsicht. Das hilft, Feinde bzw. die kleinsten Bewegungen im Gras, die sie verursachen, frühzeitig zu erkennen. Das hat aber auch Konsequenzen:
Großer toter Winkel direkt hinter dem Pferd (deshalb nie überraschend von hinten nähern!)
Monokulares Sehen: Dinge rechts und links werden mit je einem Auge wahrgenommen – was das Pferd mit links schon gesehen hat, ist mit rechts völlig neu.
Bewegungssensitivität: Pferde erkennen Bewegungen viel früher als Menschen, aber sie sehen schlechtere Details
Hell-Dunkel-Wechsel fallen ihnen schwer. Die Anpassung der Augen nimmt anderthakb bis zwei Minuten in Anspruch. Deshalb werden z. B. Halleneingänge oder Hänger oft als gefährlich empfunden.
Was bedeutet das alles für das Reiten?
Reiten bedeutet, sich auf ein Fluchttier zu setzen – und von ihm zu verlangen, sich nicht vor möglichen Gefahren zu fürchten. Das ist ein hoher Anspruch. Ein pferdegerechtes Reiten bedeutet deshalb vor allem eines: Vertrauen aufbauen.
Der Reiter muss zur sicheren Herdenführung werden – klar, ruhig, präsent
Feinfühlige Hilfen und gute Beobachtung sind unerlässlich – das Pferd „liest“ jede Muskelanspannung
Konflikte vermeiden statt aushalten – wer sich erst in Gefahrensituation begibt und dann mit Druck reagiert, verschlimmert oft das Problem. und disqualifiziert sich in den Augen des Pferdes. So würde sich ein erfahrenes Leittier niemals verhalten. Klüger ist es, erst gar nicht in solche Situationen zu geraten.
Keine – in den Augen des Pferdes – Fehlentscheidungen treffen - damit verwirkt man den Status einer Sicherheit gebenden Leitfigur.
Sitz und Einwirkung sind Kommunikationsmittel, keine Werkzeuge zum "Durchsetzen"
Ein Reiter, der sein Pferd als Fluchttier begreift, wird anders mit ihm umgehen: Souveräner, verständnisvoller, geduldiger, bewusster. Denn viele „Pferdeprobleme“ sind oft nur eine Reaktion auf Unsicherheit oder (vermeintliche) Gefahr. Würde man das Pferd jetzt strafen, würde man die Angst nur verstärken – und sich selbst durch diese grob falsche Reaktion in den Augen des Pferdes disqualifizieren. Pferde suchen Sicherheit, nicht Dominanz. Grobe Dominanz existiert in einer intakten Pferdeherde nicht. Leitfigur ist der erfahrenste, klügste, der, der die meiste Sicherheit bietet und die Herde nicht unnötig in Gefahr bringt.
Fazit: Fluchttier sein ist kein Makel
Das Pferd ist kein dummes oder überempfindliches Tier, wenn es "plötzlich erschrickt" oder "sich anstellt". Es tut genau das, wofür es gemacht wurde: es überlebt. Wer diesen natürlichen Mechanismus versteht, kann nicht nur besser reiten – er wird seinem Pferd auch mehr gerecht. Und das ist es doch, worum es eigentlich geht.
Tipp: Beobachte dein Pferd einmal bewusst im Alltag – wie oft checkt es die Umgebung? Wie reagiert es auf deine Stimmung? Du wirst erstaunt sein, wie sensibel dein Fluchttier Pferd wirklich ist.


