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Der Irrweg der modernen Dressur – Wie eine jahrhundertealte Reitkunst in die Sackgasse gerät

Aktualisiert: 1. Juli

Dressur – einst ein Ausdruck höchster Reitkunst, heute für viele nur noch ein Wettbewerb um das spektakulärste Vorderbein und das strammste Genick. Dabei war die ursprüngliche Idee der Dressur eine ganz andere: Es ging nicht um Show, sondern um funktionelle Ausbildung. Und um ein Pferd, das seinem Reiter in jeder Lebenslage zuverlässig zur Seite stehen konnte – ob im Krieg, bei der Arbeit oder auf weiten Reisen. Der heutige Trend zur rein auf Leistung und Optik reduzierten "Sportdressur" hat diesen Gedanken weit hinter sich gelassen. Mit gravierenden Folgen – für die Pferde, die Reitkunst und das Reiten selbst.


junge Reiterin

Dressur war Mittel zum Zweck


Über Jahrhunderte hinweg war die Dressur kein Selbstzweck. Sie war ein Werkzeug, ein Weg zur Ausbildung eines verlässlichen, gehorsamen und mental wie körperlich starken Pferdes. Ein gut "dressiertes", sprich ausgebildetes Pferd ließ sich mit feinsten Hilfen reiten, reagierte blitzschnell auf Gewichtsverlagerungen oder ein kaum sichtbares Zügelsignal. Es war losgelassen, durchlässig, aufmerksam – und bereit, seinem Reiter unter allen Umständen zu dienen.

Damals war klar: Ein verspanntes, überfordertes oder abgestumpftes Pferd kann in einer Gefahrensituation nicht funktionieren. Es wird panisch, bleibt stehen oder verweigert den Dienst – mit womöglich tödlichen Konsequenzen. Ein solches Pferd war unbrauchbar. Entsprechend sorgfältig und langfristig wurde ausgebildet. Die Dressur war ein jahrelanger Prozess, bei dem keine Abkürzungen möglich waren.


Damals war das Pferd wertvoll – nicht aus Tierliebe, sondern aus Vernunft


Ein gut ausgebildetes Reitpferd war teuer, oft das Ergebnis jahrelanger Arbeit. Kein Reiter oder Ausbilder hätte leichtfertig seine Gesundheit riskiert. Schon deshalb achtete man auf Losgelassenheit, gute Gymnastizierung und eine abwechslungsreiche Ausbildung. Dazu gehörten selbstverständlich auch kleine Sprünge, das Reiten im Gelände, das Training unter verschiedenen Bedingungen – kurz: die Vorbereitung auf jede Eventualität.

Heute dagegen werden viele Pferde schon mit drei oder vier Jahren in die Dressurkarriere gedrückt. Ihre Ausbildung konzentriert sich auf Lektionen, nicht auf den ganzen Pferd-Körper-Geist-Komplex. Das Ziel: schnelle Erfolge im Viereck. Die Folgen sind unübersehbar.


Dressur heute: zu schnell, zu jung, zu einseitig


Viele moderne Dressurpferde erleben nie einen Geländeritt, kennen keinen Sprung, keine Kuh, keinen Wassergraben. Sie laufen ausschließlich auf ebenem Boden – in Hallen oder auf hochgepflegten Plätzen. Sie sind optisch beeindruckend, aber funktional oft überfordert. Ein Sprung über eine einfache Tonne kann zur unlösbaren Aufgabe werden.

Hinzu kommt: Viele dieser Pferde stehen unter enormer Spannung. Die Lektionen – Traversalen, Piaffen, Passagen – werden nicht aus der Losgelassenheit heraus entwickelt, sondern "abgefragt" mit Druck und Zwang. Die feine Kommunikation, einst das Ziel der Dressur, ist einem technischen Abarbeiten gewichen.


Ein trauriger Indikator dafür: Manche Reiter nehmen für die Ehrenrunde ein anderes Pferd – weil ihr eigenes unter der Anspannung der Prüfungsituation und ohne massiven Zug an der Kandare nicht mehr reitbar ist. Das ist ein Armutszeugnis für eine Reitweise, die sich selbst als höchste Schule versteht.


Frühzeitiges Karriereende – ein Symptom des Systems


Auch Versicherungen schlagen Alarm: Statistiken zeigen, dass Dressurpferde durchschnittlich am frühesten aus dem Sport ausscheiden – oft schon nach 8 bis 10 Jahren. Die häufigsten Gründe sind orthopädische Probleme, psychische Überforderung und chronische Erkrankungen, die durch einseitige Belastung entstehen.

Nicht ohne Grund richten sich auch viele Tierschutzorganisationen mit besonderem Nachdruck gegen tierschutzwidriges Reiten in der Dressur. Rollkur, aggressive Sporeneinsätze, harte Hand – all das hat mit der ursprünglichen Idee der Reitkunst nichts mehr zu tun.


Ein Umdenken ist überfällig


Dressur muss zurück zu ihren Wurzeln finden: Zur umfassenden Ausbildung eines Pferdes, das mental stabil, körperlich gesund und vielseitig einsetzbar ist. Dressur muss wieder Mittel zum Zweck werden – nicht Selbstzweck.


Das heißt: mehr Zeit, mehr Abwechslung, mehr Blick aufs Ganze. Weg vom reinen Viereck, hin zu einer echten Schule fürs Leben. Wer ein Pferd in der Tradition der klassischen Reitkunst ausbildet, sollte ihm nicht nur Lektionen beibringen – sondern es zu einem verlässlichen Partner in allen Situationen machen.


Denn nur ein wirklich gut ausgebildetes Pferd ist am Ende auch ein gutes Dressurpferd.


Fazit


Die moderne Dressur steht an einem Scheideweg. Wenn sie ihre Legitimation als Reitkunst behalten will, muss sie sich neu ausrichten. Weg vom Drill, hin zur Harmonie. Weg von der Zurschaustellung, hin zur echten Partnerschaft. Denn nur dann wird sie ihrem ursprünglichen Ziel gerecht – und dem Pferd.

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