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Flucht- und Herdentier Pferd – Was das für unseren Umgang wirklich bedeutet


Pferde sind weder Sportgeräte noch Kuscheltiere. Sie sind hochsensible Wesen mit einem Verhalten, das seit Millionen von Jahren auf zwei fundamentalen Prinzipien basiert: Flucht und Herde.Wer ein Pferd verstehen und fair mit ihm umgehen möchte, muss diese beiden Eigenschaften – Fluchttier und Herdentier – kennen und respektieren. Denn sie beeinflussen alles: vom ersten Führstrickkontakt bis zum höchsten Ausbildungsziel im Sattel.


Pferd

Das Pferd als Fluchttier – Überleben durch Reaktion


Als ehemalige Steppentiere mussten Pferde vor allem eines: schnell reagieren, wenn Gefahr drohte. Dieses genetisch tief verankerte Verhalten ist auch heute noch aktiv – selbst im sicheren Paddock oder auf dem Reitplatz.


Typische Merkmale des Fluchttiers Pferd:


  • Hochempfindliche Sinne (vor allem Sehen und Hören)

  • Schnelle Reaktionen auf unbekannte oder plötzliche Reize

  • Bewegungsorientiertes Denken: Lieber weg als stillhalten

  • Reaktion vor Analyse: Erst laufen, dann denken – Überleben geht vor Logik

  • Hohe Stressanfälligkeit bei Enge, Zwang oder Bedrängung

  • Fluchtverhalten als Schutzmechanismus, nicht als „Ungehorsam“


📌 Was das für uns bedeutet:

  • Pferde brauchen Klarheit und Sicherheit. Unklare Körpersprache, unfaire Korrekturen oder hektische Bewegungen verunsichern.

  • Vertrauen ersetzt Kontrolle. Ein Pferd, das dir vertraut, muss nicht fliehen, sondern ist bei dir in Sicherheit

  • Feine Hilfen statt grober Einwirkung. Druck erzeugt Gegendruck – besonders bei einem Fluchttier.


Das Pferd als Herdentier – Überleben durch Gemeinschaft


Pferde leben nicht nur mit anderen Pferden zusammen – sie brauchen ihre Herde, um sich sicher zu fühlen. Dabei geht es nicht nur um Gesellschaft, sondern um soziale Strukturen, Kommunikation und gegenseitige Regulation von Stress und Verhalten.


Typische Merkmale des Herdentiers Pferd:

  • Starke Bindungsfähigkeit an Artgenossen (und manchmal auch an Menschen)

  • Soziales Lernen: Pferde beobachten, imitieren, übernehmen Verhaltensweisen

  • Klare Rangordnung, die Konflikte reduziert

  • Kooperation als Überlebensstrategie – kein Tier überlebt allein

  • Gegenseitige Kommunikation über Körpersprache


📌 Was das für uns bedeutet:

  • Pferde brauchen soziale Kontakte, auch in Haltung und Training

  • Isolation ist Stress – und kann zu Verhaltensstörungen führen

  • Wir sind Teil der Herde – bewusst oder unbewusst. Unsere Körpersprache, Stimmung und Präsenz beeinflussen das Pferd

  • Vertrauen ist Führungsqualität – wer fair, klar und verlässlich ist, wird „akzeptiert“


Fluchttier + Herdentier im Reiten und Training


Pferde sind nicht einfach nur irgendwelche Tiere – sie sind körperlich und emotional komplex. Das Zusammenspiel aus Flucht- und Herdeninstinkt bestimmt, wie sie auf Reize, Menschen und Anforderungen reagieren.


Was heißt das konkret beim Reiten?


  • Vertrauen vor Leistung Ein Pferd, das sich sicher fühlt, kann lernen. Ein verängstigtes Pferd lernt nur: Weg!

  • Feine Kommunikation Als Herdenführer müssen wir leise, aber klar „sprechen“ – mit Körper, Energie und Wiederholung, nicht mit Gewalt.

  • Rituale und Wiederholbarkeit geben Sicherheit Pferde lieben Verlässlichkeit. Ein ruhiger Ablauf vor dem Reiten, gleichbleibende Hilfen, klare Routinen – das schafft Vertrauen.

  • Raum lassen bei Unsicherheit Ein Pferd, das scheut oder zögert, braucht nicht Zwang, sondern Zeit. Weglaufen zu verhindern, bedeutet, du hast es nicht verstanden.

  • Pausen und positive Verstärkung In der Herde werden positive Signale (Abstand, Ruhe, Entspannung) fein kommuniziert. Negative Signale sind selten. Das können wir im Training gezielt nutzen.


Was wir oft vergessen: Selbstverständlichkeiten sind Ausnahmen im Pferdeverhalten


Viele Dinge, die wir Menschen im Alltag mit Pferden für selbstverständlich halten, sind aus Sicht des Pferdes alles andere als natürlich. Besonders als Flucht- und Herdentier muss das Pferd im Alltag ständig Situationen bewältigen, die gegen sein natürliches Instinktverhalten sprechen – und das ist eine außerordentliche mentale Leistung, die viel Vertrauen und konsequente Übung braucht.


Beispiel 1: Hufe geben


Für uns ist es Routine. Für das Pferd bedeutet es:

  • ein Bein abgeben (also sich wehrlos machen)

  • das Gleichgewicht verlagern (ungewohnt und instabil)

  • sich nicht bewegen können, obwohl Flucht sein wichtigstes Überlebensmittel ist


📌 Ein Pferd gibt nicht "einfach" die Hufe – es muss lernen, dass es dem Menschen so weit vertrauen kann, dass es in dieser verwundbaren Position sicher ist.


Beispiel 2: Anbinden lassen


Ein angebundenes Pferd ist bewegungsunfähig – also faktisch gefangen.Für ein Fluchttier bedeutet das:

  • Keine Möglichkeit zu fliehen

  • Abhängigkeit vom Menschen

  • Stress, wenn Druck auf den Strick kommt oder Panik entsteht


📌 Auch das Anbinden muss sorgfältig geübt werden, idealerweise mit viel Geduld und in kleinen Schritten. Pferde, die panisch rückwärts ziehen, tun das nicht aus Trotz – sondern aus einem echten, tiefen Überlebensinstinkt.


Beispiel 3: Allein in die Halle oder ins Gelände


Als Herdentier würde ein Pferd niemals freiwillig allein von der Herde weggehen. In freier Wildbahn ist das gleichbedeutend mit Lebensgefahr – wer allein ist, wird gefressen.

Wenn ein Pferd sich dennoch allein in die Halle führen oder im Gelände reiten lässt, dann ist das:

  • ein Vertrauensbeweis

  • das Ergebnis von vielen kleinen Lerneinheiten

  • kein Selbstläufer, sondern erarbeitetes Verhalten


📌 Zeigt ein Pferd Unruhe, Widerstand oder gar Panik, wenn es allein sein soll, ist das kein Ungehorsam, sondern eine natürliche Reaktion auf Isolation. Solche Pferde brauchen nicht Strafe, sondern Verständnis und gezielte Vertrauensarbeit.


Fazit: Zwischen Instinkt und Vertrauen

Ein Fluchttier lässt sich nicht einfach anbinden, ein Herdentier geht nicht allein los. Wenn ein Pferd das dennoch tut, ist das nicht selbstverständlich – sondern ein Beweis dafür, dass es dem Menschen mehr vertraut als seinen eigenen Instinkten. Es fühlt sich bei seinem Menschen sicher un dgut aufgehoben.


Und genau das ist unser Auftrag als Pferdemensch: nicht zu verlangen, sondern Vertrauen zu verdienen.

Jedes Hufegeben, jede Minute Alleinsein, jeder Ausritt ist eine Entscheidung des Pferdes für uns – gegen seine Natur.Unsere Aufgabe ist es, dieses Geschenk mit Achtsamkeit, Geduld und Respekt zu behandeln.

Merksatz:

Ein Pferd braucht nicht Beherrschung – es braucht Sicherheit.Und Sicherheit entsteht, wenn ein Fluchttier weiß: Dieser Mensch denkt wie eine gute Herde.

Zum Weiterlesen:


Verhalten & Ethologie des Pferdes


  1. Martina Friedlaender, Pferdeverhalten – Ethologie, Haltung, Ausbildung

Ein Klassiker unter den deutschsprachigen Ethologie-Werken – umfassend, gut verständlich und praxisnah.
  1. Kurt Kotrschal, Pferde: Vom Herdenleben zur Partnerschaft mit dem Menschen

Wissenschaftlich fundierter Überblick über die Sozialstruktur und das Verhalten von Pferden – inkl. Transfer in die Mensch-Pferd-Beziehung.
  1. Lucy Rees, The Horse’s Mind (nur auf Englisch)

Tiefgehende Auseinandersetzung mit der Funktionsweise des Pferdegehirns und den Konsequenzen für Haltung und Training.

🧠 Neurobiologie & Lernverhalten

  1. Dr. Vivian Gabor, Verhalten verstehen – besser mit Pferden umgehen

Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu Neurobiologie, Lernen, Stress und Training – ideal für Reiter, Ausbilder und Therapeuten.
  1. Imke Spilker, Freiarbeit mit Pferden – Wege zur echten Kommunikation

Starker Fokus auf individuelle Beziehung und Körpersprache – aus Sicht des Pferdes gedacht.
  1. Uta Gräf & Dr. med. vet. Andrea Kutsch, Feines Reiten – Vertrauensvoll zum Ziel

Verknüpft Verhalten und Lerntheorie mit klassischer Reitkunst – betont Vertrauen statt Durchsetzen.

🐴 Partnerschaftlicher Umgang & Angstverhalten

  1. Marlitt Wendt, Vertrauen statt Dominanz – Pferde verstehen durch Psychologie, Lernverhalten und Kommunikation

Kritische Auseinandersetzung mit herkömmlichen Dominanzkonzepten, sehr verständlich geschrieben.
  1. Dr. Robert M. Miller, Pferde verstehen – Der Weg zur partnerschaftlichen Kommunikation

Der bekannte US-Tierarzt bringt viele praktische Beispiele aus Verhalten, Fohlenprägung und Training mit.
  1. Anja Beran, Aus Respekt: Klassische Dressur – eine Partnerschaft

Auch wenn der Fokus auf der Dressur liegt, zieht sich das Verständnis für das Flucht- und Herdentier als Grundlage durch das gesamte Werk.

Fachartikel & Studien


  • Christensen et al. (2005–2011) – mehrere Studien zur Stressverarbeitung bei Trainingsmethoden und Alleinsein

  • Hanggi & Ingersoll (2000) – Pferdeintelligenz, Wahrnehmung und Verhalten

  • Sankey et al. (2010): Reinforcement as a mediator of the horse–human relationship – Lernen durch Vertrauen und Belohnung


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