top of page

Gebisslos Reiten – Sanft, aber nicht automatisch pferdefreundlich

Das Reiten ohne Gebiss gilt vielen als pferdefreundlichere Alternative zur klassischen Zäumung. Doch was genau bedeutet „gebisslos“, wie wirkt sich das auf das Pferd aus – und was braucht der Mensch, um sein Pferd auch ohne Metall im Maul sicher und gesund zu reiten? In diesem Artikel werfen wir einen differenzierten Blick auf das gebisslose Reiten.


Westernpferde
Das grüne Halfter liegt zu tief - das ist nicht sanft, auch wenn kein Gebiss im Maul liegt.

1. Gebiss oder gebisslos – Was ist der Unterschied in der Einwirkung?


Beim Reiten mit Gebiss liegt ein Metall- oder Kunststoffstück im Maul des Pferdes. Die Einwirkung erfolgt durch Zug an den Zügeln auf die empfindlichen Strukturen im Maul: Zunge, Laden, Gaumen, Lippen. Je nach Gebissart (einfach gebrochen, doppelt gebrochen, Stange etc.) wirken unterschiedliche Hebelverhältnisse und Druckpunkte.

Beim gebisslosen Reiten dagegen liegt keine Zäumung im Maul. Die Einwirkung erfolgt über die Nase, das Kinn, den Nacken – je nach Art der gebisslosen Zäumung (z. B. Sidepull, Knotenhalfter, Hackamore, LG-Zaum, Bitless Bridle). Auch hier wirken Hebel und Druck – nur eben an anderen Stellen.


Wichtig: Auch gebisslose Zäumungen können scharf wirken! Besonders mechanische Hackamores oder Modelle mit Hebelarmen entfalten bei starkem Zügeleinsatz erheblichen Druck auf Nasenrücken und Unterkiefer. Pferdefreundlich ist nicht automatisch gleichzusetzen mit „gebisslos“, sondern hängt von der Hand des Reiters ab.


2. Vorteile für das Pferd – warum überhaupt gebisslos reiten?


Ein Hauptargument für das gebisslose Reiten ist die Schonung der empfindlichen Maulpartie. Studien zeigen, dass schlecht angepasste oder falsch eingesetzte Gebisse zu Druckstellen, Zahnproblemen, Verletzungen der Zunge und einer verspannten Kaumuskulatur führen können (vgl. Cook et al., 2003).

Auch das natürliche Kaumuster bleibt beim gebisslosen Reiten unbeeinträchtigt, was sich positiv auf die Losgelassenheit und das Wohlbefinden des Pferdes auswirken kann. Pferde mit Zahnschmerzen, Maulverletzungen, Fehlstellungen oder schlechter Vorerfahrung mit dem Gebiss profitieren oft sichtbar von der Umstellung auf eine gebisslose Zäumung.


3. Was bedeutet gebisslos reiten für den Reiter?


Gute Nachricht: Gebisslos reiten ist möglich – sogar auf hohem Niveau.

Aber: Es erfordert mehr Feingefühl, bessere Balance und ein tieferes Verständnis von Pferdeausbildung.


Ein Pferd gebisslos korrekt „über den Rücken“ zu reiten, ist nicht nur möglich, sondern erwünscht – doch es funktioniert nicht über die Hand, sondern über Sitz, Gewicht, Schenkel und Timing. Wer sich bisher stark auf die Hand verlassen hat, um das Pferd „zu stellen“, „zu bremsen“ oder „in die Anlehnung zu bringen“, wird feststellen, dass diese Strategien gebisslos nicht aufgehen.


Viele Ausbilder betonen daher: Gebisslos reiten ist ein Gradmesser für feine Hilfengebung. Der Reiter muss lernen, wirklich ausbalanciert zu sitzen, mit Körpersprache zu kommunizieren und das Pferd nicht über die Hand zu kontrollieren.


4. Sicherheit – kann man ein Pferd gebisslos kontrollieren?


Ein häufig genanntes Gegenargument ist die vermeintlich geringere Kontrolle bei Gefahrensituationen. Studien wie die von Robert Cook (2002) legen nahe, dass Pferde mit Maulfreiheit ruhiger atmen und entspannter reagieren, was sich positiv auf die Reaktion in Stresssituationen auswirken kann.


Dennoch: Sicherheit hängt nicht vom Gebiss ab, sondern vom Ausbildungsstand von Pferd und Reiter. Ein gut ausgebildetes, aufmerksam gerittenes Pferd lässt sich auch gebisslos in jeder Situation sicher reiten. Ein schlecht gerittenes Pferd mit Angst oder Widerstand ist mit oder ohne Gebiss potenziell gefährlich.


5. Kann man ein Pferd gebisslos korrekt über den Rücken reiten?


Ja – und zwar dann, wenn der Reiter in der Lage ist, eine korrekte Anlehnung über den Sitz und den Rahmenaufbau zu erzeugen. Die berühmte „Dehnung nach vorne-abwärts“ ist auch gebisslos möglich, wenn der Rücken frei schwingen darf, das Pferd mit aktiver Hinterhand fußt und sich an den Hilfen orientiert.

Studien zur Biomechanik belegen, dass nicht das Gebiss, sondern der korrekt gearbeitete Rumpftrageapparat, die Balance und Losgelassenheit über den Rücken entscheidend sind (vgl. Göhner et al., 2019; Clayton, 2005).


6. Wissenschaftliche Einblicke und Quellen


Einige interessante Studien und Fachartikel zum Thema:

  • Cook, R. (2002): Bit-induced pain: A cause of fear, flight, fight and facial neuralgia in the horse.

  • Cook & Strasser (2003): Aspects of bitless bridles in equine welfare.

  • Clayton, H. (2005): The biomechanics of ridden movement.

  • Göhner et al. (2019): Druckverteilung bei verschiedenen gebisslosen Zäumungen (Tierärztliche Hochschule Hannover)

  • Müller, R. (2020): Gebisslos reiten – Anspruch und Wirklichkeit. Cavallo Fachartikel.


Fazit


Gebisslos ist mehr als eine Mode – aber kein Selbstläufer

Gebisslos zu reiten ist eine wunderbare Möglichkeit, das Pferd sanft und achtsam auszubilden – vorausgesetzt, Reiter*in ist bereit, an sich selbst zu arbeiten. Nicht die Zäumung entscheidet über die Harmonie, sondern die Haltung, die Ausbildung und das Zusammenspiel beider Partner.


Gebisslos ist kein Freifahrtschein für pferdefreundlich – aber eine Chance für feines Reiten.


Tipp für den Einstieg ins gebisslose Reiten:

  • Starte mit Bodenarbeit, um die neue Hilfengebung zu verankern.

  • Wähle eine sanfte, gut passende Zäumung wie ein Sidepull oder LG-Zaum.

  • Hole dir Unterstützung durch einen Trainer mit Erfahrung in gebissloser Arbeit.

bottom of page