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Können Pferde etwas „extra“ tun? – Zwischen Missverständnis und Realität

Aktualisiert: 5. Juli

Wer viel Zeit im Reitstall verbringt, kennt sie: die Kommentare am Rande des Reitplatzes, in der Stallgasse oder aus der Reithalle. „Der macht das extra!“, heißt es dann, wenn das Pferd nicht über die Stange geht, den Huf nicht gibt oder sich beim Aufsteigen zur Seite dreht. Schnell wird dem Pferd eine Art „böser Wille“ unterstellt – als würde es bewusst gegen den Menschen arbeiten. Doch ist das wirklich so? Können Pferde überhaupt absichtlich „gegen“ uns handeln? Oder liegt in diesen Aussagen ein großes Missverständnis?


Pferdeauge

Wie denken Pferde?


Pferde sind Fluchttiere mit einem stark ausgeprägten Instinktverhalten. Ihr Gehirn funktioniert grundlegend anders als das des Menschen. Besonders der Anteil des sogenannten limbischen Systems ist bei Pferden stark ausgeprägt – zuständig für Emotionen, Überlebenstriebe und einfache Reiz-Reaktions-Muster. Dagegen ist der präfrontale Kortex, der beim Menschen für logisches Denken, Planung, Strategie und bewusstes „sich-in-andere-hineinversetzen“ zuständig ist, bei Pferden kaum entwickelt.

Das bedeutet: Pferde denken nicht in menschlichen Kategorien wie „Rache“, „Böswilligkeit“ oder „Absicht“, sondern handeln aus unmittelbarer Erfahrung, gelerntem Verhalten und situativer Motivation.


Handeln aus Interesse, nicht aus Absicht


Was dem Menschen als „extra gemacht“ erscheint, ist in Wahrheit oft ein Ausdruck eines inneren Bedürfnisses:


  • Das Pferd bleibt stehen, weil es Schmerz empfindet.

  • Es weicht aus, weil es Angst hat oder Unsicherheit verspürt.

  • Es verweigert die Mitarbeit, weil es überfordert oder unverständlich behandelt wird.


Diese Verhaltensweisen sind keine absichtlichen „Ungehorsamkeiten“, sondern Strategien zur Bewältigung einer für das Pferd unangenehmen oder bedrohlichen Situation. Ein Pferd kann sehr wohl lernen, dass bestimmtes Verhalten zu einem für es angenehmeren Ergebnis führt (klassische und instrumentelle Konditionierung) – aber das ist nicht gleichzusetzen mit absichtlicher „Böswilligkeit“.


Studienlage: Was die Wissenschaft sagt


Eine interessante Studie zur emotionalen Kognition bei Pferden stammt von Proops et al. (2018). Sie zeigte, dass Pferde in der Lage sind, emotionale Ausdrücke menschlicher Gesichter zu unterscheiden und darauf zu reagieren. In einem Experiment merkten sich Pferde zum Beispiel, ob ein Mensch zuvor ein wütendes oder freundliches Gesicht gezeigt hatte – und passten ihr Verhalten später daran an. Das beweist Lernfähigkeit, aber nicht komplexe Absicht.


Weitere Studien, u. a. von Sankey et al. (2010), zeigten, dass Pferde durchaus zwischen verschiedenen Umgangsformen unterscheiden können – freundlich zugewandt versus grob und strafend. Pferde kooperierten deutlich mehr mit freundlich behandelten Menschen. Auch das spricht für Lernverhalten, aber nicht für „böswillige Absicht“.


Anthropomorphismus: Der Mensch als Maßstab


Der Fehler liegt oft bei uns: Wir interpretieren tierisches Verhalten aus menschlicher Sicht. Dieser sogenannte Anthropomorphismus – das Zuschreiben menschlicher Eigenschaften auf Tiere – führt dazu, dass wir „Absicht“, „Trotz“, „Rache“ oder „Faulheit“ dort sehen, wo eigentlich ganz andere Mechanismen am Werk sind. Wir machen das nicht aus Böswilligkeit – es ist ein ganz natürlicher Denkfehler. Aber einer, der zu gravierenden Missverständnissen in der Mensch-Pferd-Beziehung führen kann.


Was bedeutet das für den Umgang mit dem Pferd?


Wer Pferde wirklich verstehen will, sollte sich von solchen Gedanken wie „Der macht das extra!“ verabschieden. Stattdessen lohnt es sich, genau hinzuschauen:


  • Wo liegt das Problem?

  • Was könnte das Pferd motivieren, so zu reagieren?

  • Wie kann ich sein Vertrauen gewinnen oder erhalten?

  • Was signalisiert mir das Pferd mit seiner Körpersprache?


Ein guter Reiter oder Pferdemensch zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er „sich durchsetzt“, sondern dass er versteht. Und Verständnis beginnt damit, das Gegenüber ernst und so zu nehmen, wie es nun mal ist – auch wenn es ein Tier ist, das anders denkt als wir.


Fazit


Pferde tun nichts „extra“ im menschlichen Sinne. Sie sind nicht listig, böswillig oder trotzig. Sie sind hochsensible Wesen, die in jeder Situation versuchen, für sich Sicherheit, Komfort oder Entlastung zu schaffen. Ihr Verhalten ist immer Ausdruck eines Bedürfnisses, nie eine persönliche Kränkung. Wer das begreift, kann mit Pferden auf Augenhöhe kommunizieren – fair, klar und respektvoll.


Denn Reiten ist keine Machtfrage. Es ist eine Frage des Verstehens.


Studien:


1. Emotionale Kognition bei Pferden

Proops, L., Grounds, K., Smith, A. V., & McComb, K. (2018).Titel: Animals remember previous facial expressions that specific humans have displayedJournal: Current Biology, 28(9), 1428–1432.Inhalt: Zeigt, dass Pferde sich daran erinnern, ob ein Mensch zuvor freundlich oder ärgerlich geschaut hat – und später entsprechend reagieren.


📌 Schlussfolgerung: 

Pferde erkennen menschliche Emotionen und reagieren darauf – das spricht für emotionale Lernfähigkeit, nicht für komplexe Absicht oder „Trotz“.


2. Mensch-Pferd-Interaktion und Vertrauen

Sankey, C., Richard-Yris, M.-A., Henry, S., Fureix, C., Nassur, F., & Hausberger, M. (2010).Titel: Reinforcement as a mediator of the human–horse relationshipJournal: Applied Animal Behaviour Science, 125(1–2), 55–68.Inhalt: Pferde, die freundlich behandelt werden, zeigen mehr Kooperationsbereitschaft. Strafen führen zu Meideverhalten.


📌 Schlussfolgerung: 

Pferde verknüpfen Erfahrungen mit Konsequenzen – ihr Verhalten basiert auf Lernen und Erwartung, nicht auf Absicht.


3. Stress und negative Emotionen

Visser, E. K., van Reenen, C. G., Rundgren, M., Zetterqvist, M., Morgan, K., & Blokhuis, H. J. (2003).Titel: Responses of horses in behavioural tests correlate with temperament assessed by questionnaireJournal: Applied Animal Behaviour Science, 83(2), 201–212.Inhalt: Pferde zeigen messbare Stressreaktionen in Situationen, die für sie unangenehm oder unverständlich sind.


📌 Schlussfolgerung: 

Stressverhalten wird oft fälschlich als „Ungehorsam“ interpretiert.


4. Lernverhalten bei Pferden


McCall, C. A., & Burgin, S. E. (2002).Titel: Equine utilization of secondary reinforcement during response extinction and acquisitionJournal: Applied Animal Behaviour Science, 78(2–4), 253–262.Inhalt: Pferde lernen über Konditionierung (klassisch & operant) – ihr Verhalten wird von Belohnung oder Vermeidung motiviert.


📌 Schlussfolgerung: 

Handlungen des Pferdes sind lernbasiert, nicht absichtlich „gegen den Menschen“.

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