Natürliche Herdenzusammenstellungen – Wie Pferde wirklich zusammenleben
- sabinelagies
- 25. Juni
- 3 Min. Lesezeit
Wenn wir Pferde artgerecht halten wollen, lohnt sich ein Blick in ihre natürliche Sozialstruktur. Denn Pferde sind hochsoziale Wesen mit ausgeprägten, stabilen Beziehungen und einem feinen Gefüge aus Rollen, Verantwortlichkeiten und Regeln. Wer Pferde versteht, versteht auch, dass ihre Haltung in kleinen Boxen mit gelegentlichen Begegnungen auf dem Paddock wenig mit ihrer natürlichen Lebensweise zu tun hat.

In welchen Gruppen leben Pferde in der Natur?
Ursprünglich lebten Wildpferde – und in ihrer heutigen Form tun es z. B. Przewalski-Pferde oder verwilderte Hauspferde (etwa in den USA, Australien oder auf Island) – in sogenannten Harems, also Familiengruppen.
Eine typische Herde besteht aus:
1 Hengst
mehreren Stuten (in der Regel 3–10, meist etwa 4 bis 6)
deren Nachkommen, also Fohlen, Jährlinge und Jungpferde
Diese Gruppen sind stabil, oft über Jahre hinweg. Die Tiere kennen sich gut, haben klare Rollen und sind sozial eingespielt.
Wer führt – der Hengst?
Interessanterweise führt nicht der Hengst, sondern die ranghöchste Stute die Herde – sie bestimmt Tempo, Richtung, Wasserstellen und Ruhezeiten. Der Hengst bleibt meist am Rand der Gruppe,hält die Gruppe zusammen, sichert ab und greift nur ein, wenn Gefahr droht oder es um den Schutz seiner Gruppe geht.
Er ist also Beschützer und Verteidiger, aber nicht der „Chef“. Seine Aufgabe ist auch die Fortpflanzung, aber er ist kein „Patriarch“ im klassischen Sinn.
Welche Aufgaben haben die Herdenmitglieder?
Die Hierarchie innerhalb der Gruppe ist klar, aber flexibel.
Ältere, erfahrene Stuten geben Stabilität, sorgen für Struktur und leiten die Herde.
Jungtiere lernen durch Beobachtung und Spielverhalten soziale Regeln.
Der Hengst hält fremde Hengste fern und achtet auf den Zusammenhalt.Die Tiere kommunizieren durch Mimik, Körpersprache, Lautäußerungen und klare Signale.
Wie groß sind diese Gruppen?
Typischerweise liegt die Gruppengröße bei 5–15 Tieren. In besonders ressourcenreichen Gebieten kann es aber zu Zusammenschlüssen mehrerer Harems kommen – dann sprechen wir von großen Herdenverbänden oder „Bands“, in denen bis zu 50 oder mehr Pferde gemeinsam leben. Diese Zusammenschlüsse sind allerdings eher lose organisiert. Die einzelnen Familien bleiben dabei weiterhin eng beisammen.
Wie sieht es mit Fluktuation aus?
Herden sind nicht völlig statisch, sondern unterliegen einer natürlichen Fluktuation:
Jungtiere verlassen mit etwa 2 bis 3 Jahren ihre Ursprungsgruppe – Stuten schließen sich anderen Herden an, Junghengste tun sich häufig zu Junggesellengruppen zusammen.
Diese Junggesellen lernen Sozialverhalten, spielen Rangordnung aus und üben sich im späteren „Werben“ um Stuten.
Erst mit 4–6 Jahren versuchen Hengste, selbst eine Herde zu übernehmen – meist durch das „Abwerben“ einzelner Stuten oder das Übernehmen eines ganzen Harems durch herausfordernde Kämpfe gegen den bisherigen Leithengst.
Wo kommt es zu Aggression?
Aggression unter Pferden ist relativ selten, wenn genügend Raum und Ressourcen vorhanden sind. Sie dient der Klärung von Grenzen und ist ritualisiert.Ernsthafte Kämpfe finden fast nur statt:
zwischen Hengsten, wenn es um Stuten geht (Deckrecht, Schutz der Herde)
bei Begegnungen zwischen fremden Gruppen, besonders in Zeiten hoher Fortpflanzungsbereitschaft
Selbst dann sind Kämpfe meist kurz, klar strukturiert und enden mit Rückzug – tödliche Verletzungen sind die Ausnahme. Innerhalb der Herde herrschen Ruhe, soziale Nähe und gegenseitige Fürsorge. Die in Hauspferdeherden anzutreffenden "Rambos" kommen in der Natur nicht vor.
Was bedeutet das für die Hauspferdehaltung?
Die Erkenntnisse aus der natürlichen Herdenstruktur lassen sich nicht 1:1 übertragen – aber sie liefern wertvolle Hinweise:
Pferde brauchen Gesellschaft. Einzelhaltung ist tierschutzwidrig – sie widerspricht dem Wesen des Pferdes.
Stabile Gruppenstrukturen mit bekannten Artgenossen sorgen für psychische Ausgeglichenheit. Häufige Umgruppierungen sind stressig.
Gemischtgeschlechtliche Gruppen können funktionieren – mit kastrierten Hengsten (Wallachen) als „Beschützern“ und Ruhepolen. Oft sind aber gerade sie die unruhigsten Gruppen mit dem höchste Aggressionspotenzial.
Reine Wallachgruppen entsprechen den in der Natur vorkommenden Junggesellengruppen.
Auch reine Stutengruppen kommen gut zurecht. Sie kommen in der Natur ebenfalls vor, wenn der Althengst verstirbt z.B..
Platz und Ausweichmöglichkeiten sind entscheidend – je weniger Platz, desto höher das Konfliktpotenzial.
Dasselbe gilt für die Gruppengrößen. Je größer die Gruppe, umso höher das Konfliktpotenzial.
Jungpferde brauchen Spielpartner und ältere Vorbilder, um sozial zu reifen. Altersgemischte Gruppen sind ideal.
Fazit
Die Natur zeigt uns, wie Pferde leben möchten: In stabilen, sozialen Gruppen mit klaren Rollen, viel Raum, Bindung und Bewegung. Wenn wir ihnen gerecht werden wollen, sollten wir nicht über „unser“ Ordnungsprinzip nachdenken – sondern über ihres.
Denn wer das Wesen des Pferdes kennt, weiß:Artgerecht ist nicht gleich bequem – aber immer besser.


