Offenstall - automatisch gut?
- sabinelagies
- 7. Aug.
- 5 Min. Lesezeit
Warum Herdenhaltung mehr als nur Platz bedeutet
Offenstallhaltung wird oft als das Nonplusultra pferdegerechter Haltung bezeichnet – und das mit gutem Grund: Pferde haben Bewegung, frische Luft, soziale Kontakte. Doch so schön das Konzept klingt – Offenstall ist nicht automatisch gut. Denn ob es für das einzelne Pferd (und den Menschen) funktioniert, hängt von vielen Faktoren ab. In diesem Artikel schauen wir hinter die Kulissen und beleuchten, wo es in der Praxis knirschen kann – und worauf es wirklich ankommt.

1. Offenstall ≠ automatisch artgerecht
Ein Offenstall ist kein Selbstläufer. Nicht jeder Offenstall ist automatisch pferdefreundlich – und nicht jedes Pferd kommt automatisch gut damit klar. Denn:
Ein schlechter Offenstall kann mehr Stress verursachen als eine gute Box.
Ein Pferd braucht soziale Sicherheit, nicht nur „Artgenossen in Sichtweite“.
Ohne durchdachte Struktur kann ein Offenstall zur sozialen Stressfalle werden.
2. Gruppenprobleme: „Der passt da nicht rein!“
Geschlechterfragen
Wallache und Stuten gemischt? Kann funktionieren – muss aber nicht.
Dominante Stuten können Wallache stark unterdrücken – oder umgekehrt.
Reine Wallachgruppen wirken oft entspannter – aber nicht immer harmonischer.
Reine Stutengruppen können extrem stabil sein – oder sehr zickig.
Wichtig ist nicht das Geschlecht allein, sondern die individuellen Charaktere – und wie sie aufeinander treffen.
Pferdetypen & Temperament
In der Realität prallen oft Welten aufeinander:
Der ängstliche Rehblüter vs. der dominante Kaltblut-Opa
Der verspielte Jungspund vs. der arthrotische Rentner
Die hochsensible Stute vs. der ständig drängelnde Futterchef
Je unterschiedlicher die Pferde, desto durchdachter muss die Gruppenzusammenstellung sein.
Faustregel:
Weniger geht oft besser als mehr – und „passt schon“ ist kein Konzept.
Futtertypen: Leichtfuttrig vs. schwerfuttrig
Ein weiteres Konfliktfeld ist die Fütterung. Im Offenstall gelten meist Gruppenfütterungen, aber:
Leichtfuttrige Pferde (z. B. Haflinger, Isländer, Ponys) brauchen begrenzten Zugang zu energiehaltigem Futter.
Schwerfuttrige Pferde (z. B. Vollblüter, Senioren, nervöse Pferde) brauchen kontinuierlich mehr Energiezufuhr.
Wenn alle Pferde gleich viel Heu bekommen, werden die einen zu dick, die anderen zu dünn. Ohne technische Lösungen (z. B. RFID-gesteuerte Futterstationen) oder getrennte Fressbereiche können Fütterungskonflikte entstehen, die zu Futterneid, Stress, Unterversorgung oder Gesundheitsproblemen führen.
Individualabstand: Nähe ist Typsache
Pferde haben unterschiedlich große „Wohlfühlabstände“. Diese nennt man Individualdistanz.
Manche Pferde mögen Nähe und Körperkontakt (z. B. rangniedrige, soziale Typen).
Andere brauchen viel Raum um sich, sonst werden sie nervös oder aggressiv.
Offenställe ohne Rückzugsbereiche oder mit zu wenig Fläche führen dazu, dass Individualabstände nicht eingehalten werden können – das erzeugt unterschwelligen Dauerstress.
3. Gruppengröße – wie viele Pferde sind sinnvoll?
Kleine Gruppen (3–5 Pferde):
Vorteile: Übersichtlicher, schneller integrierbar
Nachteile: Weniger soziale Ausweichmöglichkeiten, instabil bei Ausfällen
Mittlere Gruppen (6–10 Pferde):
Oft optimal, wenn gut gemanagt
Soziale Rollen können sich besser verteilen
Große Gruppen (>10 Pferde):
Können sehr stabil sein, wenn Fläche, Struktur und Fütterung stimmen
Aber: Flächenbedarf, Rangdynamiken und Fütterungsorganisation werden komplex
4. Fläche & Gestaltung – ohne Raum keine Ruhe
Ein häufig unterschätzter Punkt ist der Flächenbedarf pro Pferd – nicht nur draußen, sondern auch im Liegebereich und bei der Fütterung.
Empfohlene Mindestflächen:
Lauf- und Liegefläche (Paddock & Offenstallbereich): mind. 100 m² pro Pferd, besser deutlich mehr
Wetterfest befestigte Fläche: wichtig für Herbst/Winter – kein Pferd ruht gern im Matsch
Heuraufen/Fressplätze: am besten mehr Plätze als Pferde und mit Trennwänden oder Raumteilern
Gestaltung: Struktur statt Fläche
Mehr Fläche hilft nur, wenn sie sinnvoll gegliedert ist. Wichtig sind:
Raumteiler, Hecken, Strohballen, Hügel, Durchgänge → ermöglichen Sichtunterbrechung
Ecken vermeiden, in denen Pferde sich gegenseitig festsetzen können oder sich bedroht fühlen
Mehrere Wege zwischen Futter, Wasser, Liegefläche → verhindert Staus und Konflikte
Verschiedene Ebenen oder Untergründe → fördern Bewegung und Sozialverhalten
Ein gut strukturierter Offenstall bietet Platz zum Ausweichen, klare Zonen und Fluchtmöglichkeiten – das ist elementar für friedliche Herden.
5. Fluktuation – der stille Stressfaktor
Jedes neue Pferd bringt Bewegung in die Rangordnung. Kommen regelmäßig neue Pferde an oder gehen alte weg, entsteht dauerhafter Stress, besonders bei rangniedrigen Pferden.
Es braucht:
Zeit, bis ein Pferd wirklich angekommen ist – nicht nur körperlich, sondern emotional
Ruhe, um Beziehungen zu knüpfen, Vertrauen zu fassen, Routinen zu lernen
Wie lange dauert eine echte Integration?
Körperliche Anwesenheit in der Gruppe: nach wenigen Tagen möglich
Soziale Integration: oft erst nach 3 bis 6 Monaten
Tiefe Bindung und Entspannung: kann bis zu 12 Monate dauern
Wichtig: Pferde verbergen Stress oft sehr lange – echte Ruhe zeigt sich erst mit Zeit.
6. Was einen guten Offenstall wirklich ausmacht
Strukturierte Futterplätze mit Fluchtmöglichkeiten
Ausreichend Raum zum Ausweichen – auch bei Regen!
Trennbare Bereiche für Neulinge, Senioren oder kranke Pferde
Pferdekenner statt Pferdebesitzer als Betreiber
Konstante Gruppen, wenig Fluktuation
Empathie für jedes einzelne Pferd
Individuelle Anpassung an Futterbedarf und Sozialverhalten
7. Sozialisation – nicht jedes Pferd ist „offenstallfähig“
Ein Punkt, der oft übersehen wird: Nicht jedes Pferd bringt die nötige soziale Kompetenz mit, um sich problemlos in eine Offenstallgruppe zu integrieren.
Ein Pferd, das…
allein aufgewachsen ist
nur mit einem Esel, Schaf oder anderen Nicht-Pferden gehalten wurde
früh von der Mutter getrennt wurde
kaum Sozialkontakt im Fohlenalter hatte
…hat oft massive Defizite im Sozialverhalten. Es kann entweder überangepasst, ängstlich oder extrem aggressiv reagieren – einfach, weil es nie gelernt hat, pferdetypische Kommunikation zu lesen und angemessen zu antworten.
Gerade in der Offenstallhaltung, wo Pferde ständig in Interaktion stehen, kann das zu großem Stress führen – für das betreffende Pferd und für die gesamte Gruppe.
Idealerweise…
wachsen Pferde in altersgemischten Gruppen mit Mutterstute und Gleichaltrigen auf.
lernen sie früh, soziale Signale zu erkennen und zu senden.
erleben sie sowohl Spiel als auch Konfliktlösung – und lernen, beides zu regulieren.
Sozialisation ist kein „Nice-to-have“, sondern Grundlage für Herdenfähigkeit.
Ein Pferd ohne diese Erfahrung kann Offenstall lernen – aber nur mit Geduld, Struktur und Unterstützung. In manchen Fällen ist eine Zwischenlösung wie eine Mini-Gruppe oder Einzelintegration notwendig.
Fazit: Offenstall? Ja – aber bitte mit Verstand
Ein Offenstall kann das Beste sein, was einem Pferd passieren kann. Aber nur, wenn nicht nur die Haltungsform, sondern auch die soziale, räumliche und fütterungstechnische Struktur stimmt.
Es braucht mehr als einen Unterstand und Heu – nämlich Feingefühl, Fachwissen und ein echtes Verständnis für Pferdegruppen.
Denn Offenstall ist nicht „easy“. Aber mit den richtigen Voraussetzungen kann es genau das sein, was Pferde brauchen – ein echtes Zuhause.
Quellen & Fachliteratur
1. Sozialverhalten & Sozialisation
Krüger, Konstanze (2011):Sozialverhalten und Lernverhalten beim PferdIn: Zeitschrift für Tierpsychologie / Diverse Vorträge➝ Belegt die Bedeutung sozialer Erfahrungen für das Erlernen pferdetypischer Kommunikation.
Søndergaard, Eva et al. (2011):Effects of social learning and social exposure on equine behaviourIn: Applied Animal Behaviour Science➝ Pferde lernen durch Beobachtung und Interaktion – die frühe Sozialisation ist essenziell.
Waran, N. (2002):The Welfare of Horses (Kluwer Academic Publishers)➝ Kapitel über Gruppenzusammenstellung und Auswirkungen fehlender Sozialkontakte.
2. Offenstallhaltung & Gruppenintegration
Zeh, Peter (2021):Haltungsformen für Pferde – artgerecht, wirtschaftlich, zukunftsfähig(Verlag: VFH, Verein zur Förderung der Forschung im Pferdesport)➝ Umfassende Darstellung moderner Gruppenhaltung, inkl. Integration, Flächenbedarf, Gestaltung.
Bücher der LAG (Laufstall-Arbeits-Gemeinschaft e.V.):
LAG-Leitlinien für pferdegerechte Haltung
LAG-Kriterienkatalog zur Bewertung von Offenställen➝ Praxiserprobte Standards zu Flächenbedarf, Fütterung, Gestaltung und Sozialstruktur.
Wöhr, Almut (2020):Pferdehaltung in Gruppen – Gestaltung und Management(Cadmos Verlag)➝ Sehr praxisnah: Gruppenverhalten, Stallgestaltung, Stressvermeidung, Integration.
3. Fütterung in Gruppen
Coenen, Manfred (Hrsg.):Pferdefütterung – Fütterung und Futterbewertung beim Pferd(Ulmer Verlag, 2011)➝ Fachliche Einordnung von leicht- und schwerfuttrigen Typen sowie Fütterungskonflikten im Offenstall.
FN (Deutsche Reiterliche Vereinigung):Leitlinien zur Beurteilung von Pferdehaltungen unter Tierschutzgesichtspunkten➝ Offizieller Rahmen u. a. zu Fütterung, Bewegungsfläche, Haltungssystemen
Weitere lesenswerte Ressourcen (Online & Print)
LAG e. V. – www.lag-online.de➝ Fachartikel & Checklisten zur pferdegerechten Gruppenhaltung
ProPferd.at – www.propferd.at➝ Kritische & fundierte Artikel zu Offenstall, Verhalten & Haltung
Institut für Pferdehaltung in Baden-Württemberg (Pferdezentrum Marbach)➝ Studien zur Stallgestaltung, Integration & Haltungsoptimierung
Mein Pferd / Cavallo / Feine Hilfen (Magazine)➝ Teilweise fundierte Berichterstattung mit Interviews & Erfahrungswerten


