Quo vadis, Pferdezucht? Wenn Schönheit, Show und Spektakel wichtiger sind als Gesundheit und Funktionalität
- sabinelagies
- 30. Juni
- 5 Min. Lesezeit
Ein Blick zurück: Der Pferdetyp von früher
Früher war das Zuchtziel für Pferde klar definiert: gesucht wurde ein verlässlicher, gesunder, vielseitiger Partner für Arbeit und Freizeit. Ob als Reit- oder Kutschpferd, als Helfer in der Landwirtschaft oder im Militär – gefragt war ein robuster, belastbarer Typ mit stabilem Körperbau, gutem Fundament, klaren Gelenken und einem nervenstarken Wesen. Diese Pferde sollten viel leisten können, lange gesund bleiben und sich in verschiedensten Situationen zuverlässig zeigen.

Auch die Vielseitigkeit war Trumpf: Ein gutes Reitpferd war gleichzeitig geländetauglich, im Springen brauchbar und hatte Grundgangarten, die zwar nicht spektakulär, aber ökonomisch und pferdegerecht waren.
Heute: Spezialisten mit fragiler Substanz
Heute hat sich das Bild radikal gewandelt – je nach Disziplin werden ganz bestimmte Extreme bevorzugt. In der Dressur dominiert das Bild des hypermobilen Pferdes mit spektakulären Bewegungen, großer Schulterfreiheit und extrem beugbarer Hinterhand. Im Springen zählen Schnellkraft, Explosivität, Mut und Reflexe. Im Westernreiten sind es muskelbepackte Kompaktpferde mit massiver Kruppe und übertriebener Aktion im Spin oder Slide. Im Show-Araberbereich geht es um riesige Glubschaugen, extrem konvexe Nasen und ein „edles Erscheinungsbild“, das oft auf Kosten der Atmung geht.
Das Problem: Immer öfter steht die äußere Erscheinung oder die Performance im Rampenlicht, nicht aber Gesundheit, Funktionalität oder mentale Stabilität.
Die Schattenseite: Erbkrankheiten und Qualzuchten
Mit der Spezialisierung und der Fixierung auf bestimmte Merkmale nehmen genetische Belastungen und gesundheitliche Probleme zu:
PSSM (Polysaccharid-Speicher-Myopathie) – eine Muskelerkrankung, die sich durch Schmerzen, Muskelkrämpfe und Leistungsabfall äußert, kommt bei bestimmten Zuchtlinien (v. a. Westernpferden, Warmblütern) immer häufiger vor.
ECVM (Equine Complex Vertebral Malformation) – eine Wirbelsäulenfehlbildung, die oft erst spät erkannt wird und mit Rittigkeitsproblemen und heftigen Schmerzen für das Pferd einhergehen kann.
WFFS (Warmblood Fragile Foal Syndrome) – ein Gendefekt, der zu nicht lebensfähigen Fohlen führt, wenn beide Eltern Träger sind.
Qualzuchten – wie extrem gewölbte Nasen bei Arabern, sogenannte „Dished Faces“, die die Atemwege verengen, oder übermäßig große Augen, die zu Infektionen neigen. Auch Showponys oder Minipferde mit Missverhältnissen im Körperbau fallen darunter.
Kurz: Die Pferdezucht steht zunehmend in der Kritik, sich in eine Richtung zu bewegen, die Pferde zwar „toll aussehen“ oder spektakulär auftreten lässt (nach Maßstäben des Menschen) – aber Gesundheit, Wesen und Lebensqualität des Pferdes massiv einschränkt.
Pferde, die sich nicht mehr physiologisch bewegen können
Was nützen große Bewegungen, wenn sie nicht auf korrekter Biomechanik basieren? Pferde, die durch Selektion auf Hyperbeweglichkeit in Gelenken und Bändern gezüchtet wurden, verlieren oft die Stabilität im Bewegungsapparat. Ihre Bewegungen mögen beeindrucken – aber sie sind auf Dauer ungesund und führen zu Überlastung, Verschleiß und Schmerzen.
Ein Pferd, das sich von Natur aus nicht mehr physiologisch tragen kann, wird trotz Training nie gesunderhaltend geritten werden können. Dasselbe gilt für nervlich überzüchtete Pferde, die durch geringe Reizschwelle dauerhaft unter Stress stehen.
Was muss sich ändern? – Lösungsansätze für eine gesündere Zucht
Bewertungskriterien überdenkenIn der Turnierszene müssen Showeffekte wie übertriebene Gänge, spektakuläre Gesten oder übermäßige Reaktion auf Hilfen kritisch hinterfragt werden. Sie sollten nicht honoriert, sondern als Abweichung von funktionaler Bewegungsökonomie gesehen werden.
RichterschulungRichter müssen (wieder) lernen, korrekte, gesunderhaltende Bewegung zu erkennen und zu bewerten – auch wenn sie weniger auffällig erscheint. Ausdruck darf nicht über korrekte Biomechanik gestellt werden.
Ausbildung statt AttraktionPferde sollten für ihre Ausbildung und Losgelassenheit honoriert werden, nicht für ihr Talent allein. Die solide Arbeit hinter der Leistung muss sichtbar und bewertbar sein.
Zuchtselektion verschärfenTräger von Erbkrankheiten dürfen nicht mehr zur Zucht eingesetzt werden – unabhängig von Erfolgen oder Prominenz. Die Vermeidung von Gendefekten muss Vorrang vor äußerlicher Attraktivität haben.
Mehr Verantwortung für Züchter, Verbände und KäuferJeder, der ein Pferd züchtet oder kauft, sollte sich bewusst sein: Zucht ist Verantwortung. Gesundheit, Wesen und Funktionalität müssen wieder ins Zentrum rücken.
Beispiele für Fehlentwicklungen
Das Warmblut im Wandel
Ein besonders eindrückliches Beispiel für die problematische Entwicklung der Pferdezucht ist das moderne Warmblutpferd, insbesondere im Dressursport. Noch in den 1980er- und 90er-Jahren waren Warmblüter eher rechteckig gebaut, mit tragfähigem Rücken, kräftigem Fundament und einem ausgewogenen Temperament. Sie waren vielseitig: geeignet für Dressur, Springen, Freizeit und Gelände.
Heute dominieren im Dressurviereck extrem lange Beine, schräge Schulterpartien, kurze Rücken und hohe Beweglichkeit. Diese Pferde zeigen spektakuläre Gänge – aber auf Kosten der Stabilität: Viele sind instabil im Rücken, laufen auf der Vorhand oder haben Schwierigkeiten, sich langfristig tragfähig zu entwickeln. Hinzu kommt eine zunehmende Nervosität: Pferde sind häufig schreckhaft, überempfindlich oder neigen zu Stressverhalten – weil auf Sensibilität gezüchtet wird, ohne sie mit mentaler Stärke zu koppeln.
Das Resultat: Viele moderne Dressurpferde sehen auf dem ersten Blick „atemberaubend“ aus, lassen sich aber nur schwer korrekt ausbilden, benötigen viel Management, stehen unter Dauerstress – oder brechen früh körperlich wie psychisch ein.
Der Islandpferdetyp im Wandel
Auch beim beliebten Islandpferd zeigen sich zunehmend problematische Entwicklungen in der Zucht. Ursprünglich wurden Islandpferde auf Robustheit, Trittsicherheit, klares Gangbild und ein ausgeglichenes Wesen gezüchtet – ideal für das raue Gelände Islands, für lange Ritte und als verlässliche Reitpartner für jeden Tag.
In den letzten Jahrzehnten hat sich der Zuchtfokus jedoch deutlich verschoben. Besonders im Turnierbereich werden vermehrt Pferde bevorzugt, die extreme Bewegungen in Tölt und Pass zeigen: hoher Vorderfußmechanismus, spektakuläre Aktion, großer Raumgriff – oft begleitet von einem sehr hohen Tempo.
Was dabei verloren geht:
Reine Gänge: Der Tölt wird zwar beeindruckend, aber zunehmend instabil – Passigkeit und Taktfehler häufen sich.
Körperbalance: Pferde mit übertriebener Aktion geraten aus dem Gleichgewicht, was sich negativ auf Rücken und Gelenke auswirkt.
Wesen: Zucht auf Sensibilität und „Go“ bringt Pferde hervor, die schwieriger im Alltag zu händeln sind – weniger für Freizeitreiter geeignet.
Überforderung im frühen Alter: Um Turniererfolge zu erzielen, werden junge Pferde früh gefördert – körperlich oft nicht reif genug.
So entsteht ein Typ Islandpferd, der zwar auf dem Turnierplatz glänzt, aber in puncto Gesundheit, Langlebigkeit und Vielseitigkeit hinter den ursprünglichen Zuchtzielen deutlich zurückbleibt.
Fazit: Wohin geht die Reise – Quo vadis Pferdezucht?
Wenn die Pferdezucht weiterhin einseitig auf Leistung, Showeffekt und Optik setzt, ohne Rücksicht auf Gesundheit, Wesen und artgerechte Nutzbarkeit, steuern wir auf eine Zukunft zu, in der Pferde zwar schön, aber nicht mehr gesund und rittig sind und das Reiten ethisch hoch fragwürdig wird.
Zunehmend ist zu beobachten, dass versucht wird, Ausbildung durch Zucht zu ersetzen: Pferde sollen sich "von selbst" auf die Hinterhand setzen, sich aufrichten, Last aufnehmen oder spektakulär laufen – am besten ganz ohne korrekte Ausbildung. Das Problem: Was auf dem ersten Blick wie korrekte Versammlung oder Kadenz aussieht, ist oft nur das Resultat eines auf Bewegung getrimmten Körpers, der biomechanisch nicht in der Lage ist, diese dauerhaft gesund zu leisten.
Die Optik eines Pferdes spiegelt reiterliches Können – aber der umgekehrte Weg funktioniert nicht: Man kann Ausbildungsschritte nicht "hinzüchten". Ein Pferd braucht nach wie vor Gymnastizierung, Losgelassenheit, Gleichgewicht und feine Hilfen – egal wie talentiert es aussieht.
Form follows function (die Form folgt der Funktion) – immer. Ein gesunder, harmonischer, leistungsfähiger Körper entsteht durch sinnvolles Training und viel Bewegung, nicht durch Zucht auf Form. Nur wer diese Grundregel anerkennt, wird langfristig Pferde züchten, die nicht nur schön und leistungsbereit sind, sondern auch gesund bleiben und mit Freude mit dem Menschen zusammenarbeiten.
Weiterführende Literatur und Quellen:
Valberg, S.J. (2014): "PSSM and Other Muscle Disorders in Horses." Equine Veterinary Education.
Affolter, V. (2020): "Genetische Erkrankungen beim Pferd erkennen und vermeiden." Tierärztliche Praxis.
Licka, T. (2016): "Biomechanik des Pferdes – Grundlagen für gesunderhaltendes Reiten." Veterinary Journal.
BfT (Bundesverband für Tiergesundheit): „Qualzucht bei Haustieren“, www.bft-online.de


