Höher, schneller, weiter?
- sabinelagies
- 30. Juli
- 5 Min. Lesezeit
Die Frage, ob und wann die moderne Sportreiterei von ihrem ursprünglichen Weg abgekommen ist, wird unter pferdegerechten Reitern, Ausbildern und kritischen Beobachtern seit Jahren diskutiert. Fest steht: Die heutigen Turnierbilder und das, was in vielen Reithallen tagtäglich praktiziert wird, hat oft nur noch wenig mit dem zu tun, was einst die Basis der Reiterei war – nämlich die klassische Reitkunst im Sinne der alten Meister.

Von der HDV 12 zu den FN-Richtlinien
Die sogenannten "Richtlinien für Reiten und Fahren" der FN gelten als Standardwerk in der Ausbildung von Pferd und Reiter in Deutschland. Was viele nicht wissen: Diese Richtlinien basieren ursprünglich auf der Heeresdienstvorschrift HDV 12 – einem militärischen Ausbildungsmanual der Kavallerie, das seinerseits die Erkenntnisse klassischer Reitmeister wie Guérinière, Seidler, Steinbrecht oder von Weyrother aufgriff und systematisierte.
In der HDV 12 stand das Wohl des Pferdes im Vordergrund – zumindest im Sinne der langfristigen Leistungsfähigkeit und Gesunderhaltung. Denn ein Kavalleriepferd musste nicht nur präzise funktionieren, sondern vor allem gesund und leistungsfähig bleiben, um im Einsatz bestehen zu können. Damals wurde noch mit Bedacht ausgebildet, das Pferd durfte seine Kraft und Balance entwickeln, es gab keine künstlichen Zeiteinheiten, keine Turnierambitionen, keine Weltcup-Serien.
Die damalige Maxime lautete: "Reite dein Pferd so, dass es besser wird."
Was hat sich verändert – und warum?
Seit dem Verschwinden der Kavallerie und dem Aufstieg des Pferdesports als Freizeit- und Wettkampfdisziplin hat sich die Reiterei zunehmend von ihren klassischen Wurzeln entfernt. Heute zählt nicht mehr der Weg, sondern das Ergebnis. Statt über Jahre hinweg ein Pferd durch systematische Gymnastizierung zu einem tragfähigen, zufriedenen Reitpferd zu formen, geht es vielerorts um schnelle Siege, Schleifen und Sponsorengelder.
Einige zentrale Veränderungen:
Zeitdruck: Pferde sollen heute oft in kürzester Zeit „ausbildungsbereit“ und „turnierfertig“ sein – auf Kosten ihrer körperlichen und mentalen Reife.
Zucht: Der moderne Sportpferdetyp ist auf spektakuläre Bewegungen gezüchtet – oft auf Kosten der Rittigkeit, Tragkraft und psychischen Stabilität.
Ausbildungsmethoden: Rollkur, Hyperflexion, zu frühes „in Aufrichtung reiten“, mechanisches Arbeiten mit Hilfszügeln oder Sporenmissbrauch widersprechen der klassischen Lehre diametral.
Bewertungssysteme: Auf Turnieren werden häufig äußere Formen (Rahmen, „Schwung“, Show) über innere Werte wie Losgelassenheit, Taktreinheit und feine Kommunikation gestellt.
Kommerzialisierung: Pferdesport ist ein Millionengeschäft geworden – mit aller Härte des Marktes, auf Kosten der Tiere.
Und das Pferd? Wird zum Sportgerät.
Die traurige Folge dieser Entwicklung: Das Pferd als fühlendes Lebewesen rückt immer weiter in den Hintergrund. Statt partnerschaftlicher Ausbildung begegnet ihm vielerorts funktionalisierendes Denken: Was kann es leisten? Wie schnell wird es erfolgreich? Lässt es sich verkaufen?
Dabei zeigt uns die klassische Reitkunst einen völlig anderen Weg: Einen Weg der Geduld, der Empathie, der biomechanischen Logik und der psychischen Rücksichtnahme. Sie fragt nicht: Wie schnell geht es?, sondern: Wie sinnvoll ist es?
Stimmen der Kritik – wer sich öffentlich dagegenstellt
Diese Entwicklung bleibt nicht unkommentiert. Zahlreiche namhafte Ausbilder, Tierärzte und ehemalige Turnierreiter äußern sich seit Jahren kritisch zur modernen Sportreiterei:
Philippe Karl, ehemaliger Bereiter der Cadre Noir in Saumur und Gründer der École de Légèreté, kritisiert scharf die Dominanz grober Hilfen, das Reiten gegen die Schwerkraft sowie das sogenannte "Ziehen-rückwärts bzw. "in den Boden"-Wirken -Dauertreiben"-System der heutigen Turnierdressur. In seinem Buch "Irrwege der modernen Dressur" bezeichnet er die gegenwärtige FN-Lehre als biomechanisch falsch und pferdefeindlich.
Dr. Gerd Heuschmann, Tierarzt, Reiter und Autor, war einst Teil der FN-Kommission – bis er sich deutlich gegen das System stellte. In seinem Buch "Stimmen der Pferde" kritisiert er die Rollkur, die verkürzten Ausbildungswege und das mechanisierte Reiten. Sein Fazit: Viele Pferde zeigen deutliche Stresssymptome – physisch wie psychisch.
Anja Beran, Ausbilderin in der klassischen Reitweise, spricht von einem Verlust an Reitkultur und fordert mehr Wissen, mehr Zeit und mehr Rücksichtnahme im Umgang mit Pferden. In Interviews weist sie immer wieder auf den Gegensatz zwischen echter Versammlung und spektakulärer Pose hin – und den Schaden, den dieser Unterschied in der Sportreiterei anrichtet.
Dr. med. vet. Hiltrud Strasser kritisiert nicht nur Hufbearbeitung und Haltung, sondern auch die physische Überforderung vieler Sportpferde. Ihre These: Viele Lahmheiten, Rückenprobleme und „Unrittigkeiten“ sind direkte Folgen eines Systems, das den Pferdekörper überfordert.
Auch Isabell Werth, Deutschlands erfolgreichste Dressurreiterin, äußerte sich in Interviews mehrfach selbstkritisch über die Entwicklung der Reiterei und mahnt zur Rückbesinnung auf die Skala der Ausbildung. Gleichzeitig bleibt sie Teil eines Systems, das von vielen als Widerspruch zu diesen Aussagen gesehen wird – was deutlich macht, wie komplex und widersprüchlich die Situation ist.
Ein Plädoyer für Rückbesinnung
Es geht nicht darum, alles im modernen Sport zu verteufeln. Aber es braucht eine ehrliche, selbstkritische Rückbesinnung auf das ursprüngliche Ziel des Reitens: Ein gesundes, zufriedenes, tragfähiges und gerne mitarbeitendes Pferd.
Dafür braucht es:
mehr Wissen um klassische Ausbildungssysteme
mehr Verständnis für Pferdeverhalten und -körper
bessere Ausbilder
einen Systemwandel in der Bewertung von Turnierleistungen
und vor allem: mehr Zeit, Geduld und Verantwortungsbewusstsein
Denn nur wenn wir aufhören, das Pferd als Mittel zum Zweck zu sehen, sondern es als unseren gleichwertigen Partner begreifen, können wir das wiederfinden, was die klassische Reitkunst einst so wertvoll gemacht hat: Eine tief verbundene, feine, von gegenseitigem Respekt getragene Beziehung zwischen Mensch und Pferd.
Zum Weiterlesen:
Philippe Karl – Irrwege der modernen Dressur: Kritik und Alternativen (Cadmos Verlag)
Ein leidenschaftliches, streitbares Werk, das mit fundierter Biomechanik, klassischer Theorie und jahrzehntelanger Erfahrung die modernen Praktiken der FN-Dressur infrage stellt. Besonders wertvoll sind die detaillierten Erklärungen zu Zügelhilfen, Aufrichtung, und Tragkraft – sowie die ethische Positionierung: Reiten darf dem Pferd nicht schaden.
👉 Für alle, die tiefer in die Kritik an der Sportreiterei einsteigen wollen – und echte Alternativen suchen.
Dr. Gerd Heuschmann – Stimmen der Pferde: Was Pferde von uns Menschen erwarten (Müller Rüschlikon Verlag)
Der Tierarzt und Reiter beschreibt eindrucksvoll, wie moderne Ausbildungsmethoden – von Rollkur bis zur Frühversammlungs-Zwang – dem Bewegungsapparat und der Psyche des Pferdes schaden. Mit anschaulichen Zeichnungen, Fotos und Fallbeispielen.
👉 Für Leser, die wissenschaftliche Grundlagen zur Kritik an der modernen Reitweise suchen.
Anja Beran – Der Weg zur Harmonie: Klassische Reitkunst für Pferd und Reiter (Cadmos Verlag)
Ein Buch voller Klarheit, Einfühlungsvermögen und praktischer Erfahrung. Beran beschreibt, wie klassische Ausbildung heute aussehen kann – pferdegerecht, logisch und ohne Gewalt. Mit vielen Fallbeispielen, Bildern und Gedanken zur Ethik im Umgang mit Pferden.
👉 Für Reiter:innen, die praktische Anleitung mit Haltung verbinden möchten.
Egon von Neindorff – Die klassische Reitkunst: Ihr Wesen, ihre Methode, ihr Ziel (Olms Verlag)
Ein Standardwerk, das tief in das Wesen der klassischen Reitkunst eintaucht. Neindorff war einer der letzten großen Vertreter der reinen Lehre und plädiert für Achtung, Systematik und Disziplin im Dienst des Pferdes.
👉 Für alle, die sich mit den Wurzeln der klassischen Reiterei beschäftigen wollen.
Gustav Steinbrecht – Das Gymnasium des Pferdes (Müller Rüschlikon Verlag)
Der Klassiker schlechthin. Obwohl im 19. Jahrhundert verfasst, ist das Werk in seinen Grundsätzen aktueller denn je. Steinbrecht war der Überzeugung: „Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade.“ Seine Gedanken zur Gymnastizierung und Tragkraftbildung sind zeitlos.
👉 Für tiefgründig Interessierte, die bereit sind, sich durch ein anspruchsvolles, aber lohnendes Werk zu arbeiten.
Dr. Thomas Ritter – Dressage Principles based on Biomechanics (Selbstverlag, englisch)
Moderne Perspektiven auf klassische Prinzipien. Ritter verbindet traditionelle Reitkunst mit moderner Biomechanik – verständlich erklärt, praxisnah und fundiert. Besonders interessant: Seine Ansichten zu Aufrichtung, Gleichgewicht und Ausbildungsskala aus Sicht aktueller Forschung.
👉 Für Reiter, die moderne Wissenschaft mit klassischer Lehre verbinden wollen. Englischsprachig.


