Selbsthaltung beim Pferd – Was das wirklich bedeutet
- sabinelagies
- 5. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Was ist Selbsthaltung?
Selbsthaltung beschreibt den Zustand, in dem ein Pferd sich aus eigener Kraft, Balance und innerer Spannung in einer gesunden, tragenden Haltung bewegt – ohne ständigen äußeren Zwang durch Reiterhand oder Schenkel. Es trägt sich selbst und damit auch seinen Reiter, im Gleichgewicht, mit aktiver Hinterhand, aufgewölbtem Rücken und freier Schulter. Der Ausdruck im Pferd ist wach, aber gelassen – es sieht stolz aus, aber nicht angespannt.
Selbsthaltung ist kein „Zustand der Kontrolle“, sondern ein Zeichen von Körperkompetenz und innerer Bereitschaft.

Kennzeichen der Selbsthaltung
Ein Pferd in Selbsthaltung zeigt:
Takt, Losgelassenheit und Anlehnung (gemäß Skala der Ausbildung)
Eine aktive, untertretende Hinterhand, die Last aufnimmt
Einen aufgewölbten Rücken, frei schwingend unter dem Reiter
Einen frei beweglichen Brustkorb und Schulterbereich
Einen nach vorne-abwärts getragenen Hals, wobei das Genick der höchste Punkt ist – ohne festgehalten zu sein
Einen ruhigen Schweif, gelassene Mimik und klare Reaktionen
| Das Pferd sucht die Verbindung zur Hand von sich aus, nicht durch Zwang.
Wie entsteht Selbsthaltung?
Selbsthaltung entsteht durch korrekte gymnastizierende Ausbildung, bei der das Pferd Verständnis, Zeit und muskuläre Kapazität entwickelt, um sich selbst zu tragen. Die Basis liegt in einem durchlässigen, gut koordinierten Pferdekörper.
Wichtige Voraussetzungen sind:
Losgelassenheit – ohne sie kann kein Muskel sinnvoll arbeiten
Körperbewusstsein – durch gezielte Übungen wie Übergänge, Seitengänge, korrektes Longieren
Positive Motivation – das Pferd muss die Bewegung als sinnvoll und angenehm erleben
Klare Hilfen ohne Zwang – Führung, nicht Kontrolle
Warum „Zusammenschieben“ kontraproduktiv ist
Der oft gehörte Rat, ein Pferd zwischen „Schenkel und Hand zusammenzuschieben“, führt nicht zu echter Selbsthaltung – im Gegenteil: Er führt zu kompensatorischen, fehlerhaften Bewegungsmustern, die auf Dauer schädlich sein können.
Denn was passiert biomechanisch beim "Zusammenschieben"?
Das passiert im Pferdekörper:
Das Pferd kann nicht mehr frei nach vorne schwingen, weil die Hand blockiert
Die Hinterhand wird vorwärtsgetrieben, trifft aber auf ein eine Blockade. Die Energie wirkt nach vorne-unten und schiebt den Brustkorb "in den Boden".
Der Rücken sinkt ab, statt sich aufzuwölben
Die Bauchmuskeln arbeiten nicht aktiv, weil die Last nicht korrekt umgelenkt wird
Die Bewegung wird kurz, unelastisch, oft taktunrein oder spannig
Häufig zeigen sich frühe Verschleißerscheinungen, besonders in Halswirbelsäule, Knie, Hufgelenken und Rücken
Was nach außen wie „Rahmenaufnahme“ aussieht, ist oft nur mechanisch erzeugte Haltung – keine funktionelle.
Wie kann man Selbsthaltung überprüfen?
Ein wichtiger Punkt in der Ausbildung ist die Überprüfung, ob das Pferd sich wirklich selbst trägt – oder ob es lediglich durch Hilfen „in der Haltung gehalten“ wird. Dafür gibt es einige einfache, aber aussagekräftige Tests:
Zügel aus der Hand kauen lassen
In allen Gangarten sollte das Pferd in der Lage sein, sich vorwärts-abwärts zu dehnen, wenn der Reiter den Zügel nachgibt. Dabei gelten folgende Kriterien:
Das Pferd streckt sich mit der Nase nach vorne-unten, ohne die Balance zu verlieren
Der Takt bleibt erhalten, es gibt keinen Taktverlust oder Unruhe
Die Geschwindigkeit ändert sich nicht, das Pferd fällt weder auseinander noch beschleunigt es
Die Rückentätigkeit bleibt aktiv, der Reiter spürt weiterhin ein Schwingen im Sitz
Ein korrekt gymnastiziertes Pferd nimmt die Dehnung gerne an, weil sie angenehm ist und echte Muskelarbeit entlastet.
Freiheit auf Ehrenwort
Ein bildhafter Ausdruck aus der klassischen Reitlehre lautet:
„Freiheit auf Ehrenwort“ – das Pferd bleibt in Haltung, auch wenn der Reiter loslässt.
Das bedeutet: Der Reiter gibt die Zügelverbindung bewusst auf – das Pferd verändert jedoch weder Haltung noch Tempo. Es trägt sich selbst, allein aktiviert über den Sitz des Reiters. Das Pferd bleibt konzentriert, im Takt, in der Balance und reagiert fein auf den Körper – nicht auf die Zügel, den es nicht mehr gibt.
Das funktioniert nur, wenn das Pferd die Haltung von selbst einnimmt und nicht durch Druck in ihr gehalten wurde.
Was zeigt dieser Test?
Wirkliche Losgelassenheit und Tragkraft
Eine ehrliche, freiwillige Anlehnung
Reale Verbindung zum Reitersitz
Die Bereitschaft des Pferdes, Verantwortung für seine eigene Balance zu übernehmen
Fazit
Echte Selbsthaltung zeigt sich nicht in der Optik – sondern darin, dass sie auch ohne Kontrolle von außen bestehen bleibt. Ein Pferd, das sich freiwillig in einer gesunden Haltung bewegt, ist nicht „im Rahmen gehalten“, sondern hat sich diesen Rahmen selbst gebaut – mit unserer Hilfe.
Reiter, die bereit sind, Kontrolle zugunsten von Kommunikation loszulassen, werden mit einem sich selbst tragenden, ausdrucksstarken und motivierten Partner belohnt.
📌 Merksatz zum Schluss:
Ein sich selbst tragendes Pferd ist nicht ein zwischen Hand und Schenkel zusammengeschobenes Pferd. Es ist ein Pferd, das gelernt hat, sich mit dem Reiter im Gleichgewicht zu bewegen – aus eigener Kraft.
Früher gehörte das "Zügel aus der Hand kauen lassen" übrigens standardmäßig zu den Lektionen einer Dressurprüfung. So lässt sich überprüfen, ob das Pferd reell gearbeitet wurde und wird.
Was sagt die Wissenschaft?
Studie 1: Rückenprobleme durch fehlerhafte Haltung
Kienapfel et al. (2014) untersuchten die Rückenform von Pferden in unterschiedlichen Haltungen. Ergebnis: Pferde, die in Rollkur-ähnlichen Haltungen geritten wurden, zeigten erhöhten Druck auf Dornfortsätze und reduzierte Muskelaktivität im langen Rückenmuskel.
=> Selbsthaltung ermöglicht Entlastung und Muskelarbeit, während „Zusammenschieben“ zu Kompression und Verspannung führt.
Studie 2: Einfluss der Zügelspannung
Lesimple et al. (2016) zeigten, dass konstante Zügelspannung zu Stresssymptomen und negativen Verhaltensweisen führt – während Pferde mit freier, aktiver Eigenhaltung deutlich entspannter waren.
=> Dauerhafte Einwirkung von außen behindert das Pferd in seiner natürlichen Koordination.
Studie 3: Muskelarbeit bei Selbsthaltung
Meyers & Hodson (2007) beobachteten in EMG-Studien (elektronischer Muskelmessung), dass bei korrekt gerittenen Pferden in Selbsthaltung die tiefliegenden Stabilisatoren (wie M. multifidi) aktiv sind – was auf funktionelle Aufrichtung und Rückenstabilität hinweist.
=> Selbsthaltung trainiert gesund, Zwangsrahmen unterdrücken funktionelle Muskulatur.


