Sollte ein Schulpferd dauerhaft ausgebunden laufen?
- sabinelagies
- 1. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 5 Tagen
Warum der Einsatz von Ausbindern kritisch hinterfragt werden muss
Was ist ein Ausbinder – und warum wird er verwendet?
In vielen Reitschulen sieht man ein vertrautes Bild: Das Schulpferd wird mit Ausbindern geritten – oft routinemäßig, manchmal sogar in jeder Reitstunde. Ziel ist es, das Pferd in einer bestimmten Kopf-Hals-Haltung zu fixieren, um dem Reitschüler mehr Kontrolle oder eine optisch ansprechende Silhouette zu bieten.
Doch was bedeutet das für das Pferd? Und ist es wirklich sinnvoll, ein Schulpferd dauerhaft ausgebunden zu reiten? Diese Fragen verdienen eine fundierte Antwort – aus Sicht der Biomechanik, der Ausbildung und des Tierschutzes.

Was passiert im Pferdekörper, wenn es dauerhaft ausgebunden ist?
Ein Ausbinder schränkt die natürliche Bewegungsfreiheit des Pferdes ein – insbesondere im Hals, Genick und Rücken. Was gut gemeint ist, kann in Wahrheit kontraproduktiv oder sogar schädlich sein:
1. Einschränkung der natürlichen Balance
Der Hals dient dem Pferd als Balancierstange – vor allem dann, wenn es sich auf unebenen Boden, in Kurven oder unter einem unausbalancierten Reiter bewegt. Ist der Hals fixiert, kann das Pferd keine natürliche Ausgleichsbewegung mehr ausführen. Es kompensiert diese Einschränkung durch Muskelverspannungen, Taktfehler oder sogar Lahmheit.
2. Verlust der Selbsthaltung
Ein korrekt gerittenes Pferd lernt, sich selbst zu tragen – mit aktivierter Hinterhand, schwingendem Rücken und vertrauensvollem Kontakt zur Reiterhand. Ein Pferd, das mechanisch „unten gehalten“ wird, entwickelt keine echte Anlehnung, sondern vermeidet den Druck oder versteift sich.
3. Muskuläre Schäden
Dauerhafte Fehlhaltungen durch Ausbinder führen zu:
Verspannungen im Nackenband (Ligamentum nuchae),
Blockaden in der Halswirbelsäule,
Muskelatrophie im Rücken- und Schulterbereich,
kompensatorischem Zug auf Sehnen und Gelenke der Vorhand.
Eine Studie von Dr. Hilary Clayton (Michigan State University) zeigt, dass ein künstlich fixierter Kopf-Hals-Winkel zu einer verringerten Rückentätigkeit und einer eingeschränkten Atmung führen kann – insbesondere bei Zwangshaltungen (Clayton, 2006).
Was bedeutet das für das Schulpferd mit unausbalancierten Reitern?
Gerade Schulpferde tragen oft Reitanfänger, die ihren Sitz noch nicht gefunden haben, häufig in den Steigbügel „plumpsen“ oder sich in Wendungen verlagern. Das Pferd muss dabei ständig ausgleichen – mit seinem Rücken, seiner Hinterhand und vor allem mit seinem Hals und Kopf.
Wird dem Pferd diese dynamische Ausgleichsfunktion durch Ausbinder genommen, kann es den Reiter kaum noch schmerzfrei oder gesund tragen. Stattdessen entstehen:
Verspannungen durch ruckartige Bewegungen ohne Ausgleichsmöglichkeit,
Abwehrreaktionen wie Kopfschlagen, Bremsen oder Bocken,
psychischer Stress, weil das Pferd sich eingeengt und wehrlos fühlt.
Warum schießt ein Schulpferd los, wenn es nicht ausgebunden ist?
Viele Reitschulen greifen zu Ausbindern, weil das Pferd sonst losrennt, den Kopf hochreißt oder sich dem Zügelkontakt entzieht. Doch genau das ist ein Symptom – nicht die Ursache.
Mögliche Ursachen für das Verhalten:
Schmerzen im Rücken oder Maulbereich,
Angst oder Unsicherheit, etwa durch instabile Reiter,
Unklarheiten in der Hilfengebung,
fehlendes Vertrauen in die Reiterhand,
mangelnde Grundausbildung in der Anlehnung.
Ein Pferd, das ohne Ausbinder „durchgeht“, sollte nicht mechanisch eingeschränkt, sondern gründlich analysiert und ausgebildet werden. Oft helfen schon gezielte Bodenarbeit, Longe mit Kappzaum oder einfühlsame Einheiten mit erfahrenen Reitern, um dem Pferd Sicherheit und Verständnis für die Handhilfen zu vermitteln.
Macht ein Ausbinder überhaupt Sinn in der Ausbildung?
Die Antwort lautet: Nur sehr bedingt – und nur in erfahrenen Händen.
Ein sinnvoll eingesetzter Ausbinder kann beim korrekten Longieren eines bereits gut gymnastizierten Pferdes kurzzeitig als Orientierungshilfe dienen. Aber:
Ein junges oder unausgebildetes Pferd, das noch nicht gelernt hat, selbstständig an die Hand heranzutreten, profitiert nicht von einem Zwang in die Haltung.
Schulpferde, die täglich unterschiedliche Reiter mit instabiler Hand tragen müssen, dürfen nicht mechanisch in eine Haltung gezwungen werden, die sie nicht verstehen oder körperlich leisten können.
Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) warnt in ihren Richtlinien (Band 1) ausdrücklich vor dem dauerhaften Einsatz von Hilfszügeln bei ungeschulten Reitern oder unvorbereiteten Pferden:
„Hilfszügel dürfen nie das Ziel, sondern höchstens ein vorübergehendes Mittel in der Ausbildung sein.“ (FN-Richtlinien Reiten, Bd. 1)
Fazit: Kein Schulpferd sollte dauerhaft ausgebunden laufen
Dauerhaft eingesetzte Ausbinder sind kein Ersatz für gute Ausbildung, kein Mittel zur Problemlösung und schon gar nicht gerecht gegenüber dem Pferd. Besonders bei Schulpferden, die Tag für Tag Reitanfänger tragen, sind sie nicht nur unnötig, sondern schädlich.
Wer reiten lehren will, braucht Pferde, die losgelassen, gesund und vertrauensvoll arbeiten können.
Dafür braucht es:
eine fundierte Ausbildung des Pferdes in Anlehnung und Balance,
eine faire, artgerechte Haltung mit ausreichend Bewegung,
Reitunterricht, der zuerst den Sitz und die Hand des Reiters schult,
und das Verständnis, dass Lernen Zeit, Geduld und Einfühlungsvermögen braucht – für Pferd wie Reiter.
Zusammenfassung für Reitschulen und Reiter:
Kein Dauergebrauch von Ausbindern beim Schulpferd!
Pferde benötigen ihre Halsfreiheit zur Balance
Verhaltensprobleme nicht unterdrücken, sondern verstehen und beheben
Ausbildung statt Fixierung: Reiten beginnt im Kopf; Mit Wissen – nicht am Zügel
Literatur & Quellen:
Clayton, H. M. (2006). The effect of head and neck position on kinematics of the back in horses. The American Journal of Veterinary Research.
Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN), Richtlinien für Reiten und Fahren, Band 1.
Haunhorst, J. et al. (2018). Untersuchung zu Schmerzen bei gebissbeeinflussten Pferden in der Reitschule, Journal für Tiermedizin.


