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Trageschwäche, Trageerschöpfung und Topline-Syndrom: Wenn das Pferd nicht mehr tragen kann

Die Begriffe Trageschwäche, Trageerschöpfung und zunehmend auch Topline-Syndrom sind in den letzten Jahren immer häufiger in der Pferdewelt zu hören. Sie beschreiben keine Modeerscheinung, sondern ein weitverbreitetes Problem, das oft lange unbemerkt bleibt – bis das Pferd unter Schmerzen zusammenbricht, sich verweigert oder chronisch krank wird. Doch worum geht es dabei genau? Welche Symptome weisen auf eine Trageschwäche hin, wo liegen die Ursachen und warum reicht es nicht, „einfach aufzusteigen und loszureiten“?


Trageerschöpfung

Was ist Trageschwäche / Trageerschöpfung / Topline-Syndrom?


Die Begriffe sind relativ neu in ihrer Verbreitung, auch wenn die Problematik dahinter alt ist. Trageschwäche beschreibt einen Zustand, in dem das Pferd körperlich nicht in der Lage ist, den Reiter gesund zu tragen. Trageerschöpfung ist die chronische Folge davon – ein Zustand massiver Überlastung und Erschöpfung des Bewegungsapparats, insbesondere der tragenden Strukturen des Rückens. Das sogenannte Topline-Syndrom ist eine neuere, oft in der Osteopathie und Pferdetherapie genutzte Umschreibung für die sichtbaren Folgen einer Trageschwäche: Der Abbau der oberen Muskelkette entlang des Rückens – also der „Topline“.


Erwähnung finden diese Begriffe insbesondere seit den 2000er Jahren verstärkt in der rehabilitativen Pferdearbeit, physiotherapeutischen Fachliteratur und im Kontext einer kritischen Auseinandersetzung mit konventioneller Reitausbildung. Experten wie Dr. Gerd Heuschmann, Jean-Marie Denoix oder auch Dr. Hilary Clayton haben die biomechanischen Hintergründe durch Studien untermauert.


Symptome: Wenn das Pferd nicht mehr kann


Ein Pferd mit Trageschwäche zeigt oft unspezifische, aber deutlich erkennbare Symptome – sofern man genau hinsieht:


  • Absinken des Brustkorbs, fehlende Aufrichtung

  • Unterhalsbildung statt Tragkraftentwicklung über den Rücken

  • Verspannte oder abgebaute Rückenmuskulatur (Dornfortsätze stehen vor, Dellen hinter dem Schulterblatt)

  • Kreuzschmerzen, Widersetzlichkeit beim Satteln oder Reiten

  • Lahmheiten ohne klare orthopädische Ursache

  • Taktfehler und Unsicherheiten in der Bewegung

  • Schwankender oder schmerzhaft wirkender Gang

  • Sattelrücken – die Wirbelsäule tritt optisch hervor

  • Verhaltensänderungen wie Aggression, Rückzug oder Vermeidung


Langfristig können diese Symptome in ernsthafte Schäden übergehen: Kissing Spines, Fesselträgerschäden, Sehnenprobleme, Arthrosen und chronische Schmerzen sind häufige Spätfolgen.


Ursachen: Warum Pferde einfach nicht "zum Reiten gemacht" sind


Pferde sind evolutionär Lauftiere, keine Lastenträger. Die Reitbarkeit eines Pferdes ist keine Selbstverständlichkeit, sondern muss über gezieltes Training aufgebaut werden. Insbesondere der Rücken des Pferdes ist nicht von Natur aus dafür gemacht, das zusätzliche Gewicht eines Reiters zu tragen – im Gegenteil: Der Rücken ist eine dynamische Brückenkonstruktion, die ohne Training regelrecht unter dem Reitergewicht kollabieren kann.


Ursachen einer Trageschwäche sind unter anderem:

  • Fehlende Ausbildung zum Reitpferd (Aufbau der tragenden Muskulatur)

  • Zu früher oder unpassender Reiterstart

  • Überforderung durch Gewicht, Reiterfehler oder Haltung

  • Unpassende Ausrüstung (v.a. schlecht sitzende Sättel)

  • Bewegungsmangel / falsche Haltungsbedingungen

  • Monotones oder einseitiges Training

  • Schmerzbedingte Schonhaltungen und Kompensationen

  • Traumatische Erlebnisse, die zu muskulären Blockaden führen


Anatomie – darum sinkt der Rumpf so leicht ab

Ein zentrales Problem bei der Trageerschöpfung liegt in der Anatomie des Pferdes: Pferde besitzen kein Schlüsselbein. Das bedeutet, dass der Rumpf – bei einem durchschnittlich großen Warmblut etwa 250–300 Kilogramm schwer – nicht durch knöcherne Strukturen gestützt wird, sondern frei zwischen den Vorderbeinen "aufgehängt" ist. Die Aufhängung besteht aus einem komplexen Zusammenspiel von Sehnen, Bändern, Faszien und stützender Muskulatur wie dem M. serratus ventralis.


Diese tragenden Muskeln werden von Fohlenalter an durch Bewegung entwickelt – durch Galoppieren, Spielen, Aufstehen, Rennen. Der Muskeltonus passt sich dabei über Jahre langsam dem wachsenden Gewicht des Pferdekörpers an.


Kommt jedoch plötzlich ein Reiter auf das Pferd, und sei es "nur zum Anreiten", sieht die Belastung völlig anders aus: Das Pferd muss von einem Moment auf den anderen zusätzlich etwa 10–20 % seines Körpergewichts tragen – also 60 bis 120 Kilogramm, je nach Reitergewicht und Ausrüstung.


Beim Menschen entspräche das einem Rucksack von rund 15 bis 20 Kilogramm, der ohne Vorbereitung dauerhaft getragen werden soll – auf einer instabilen Wirbelsäule und mit der Anforderung, dabei zu laufen, zu rennen und zu springen. Ohne gezielten Muskelaufbau ist das für den Pferdekörper schlicht nicht leistbar.


Das erklärt, warum viele Pferde bereits nach wenigen Wochen oder Monaten unter dem Reiter erkennbar absacken, den Brustkorb nicht mehr heben können, Verspannungen entwickeln oder sogar lahm werden. Der Rumpf kann nicht mehr stabilisiert werden – mit allen gesundheitlichen Folgen.


Warum gezieltes Tragkrafttraining notwendig ist


Ein gesundes Reitpferd braucht daher eine systematische Ausbildung, die den Aufbau der tragenden Muskulatur, insbesondere der Rückenmuskulatur, der Bauchmuskulatur und der Hinterhandträger (Gluteus, Biceps femoris, etc.) fördert.


Wichtige Trainingsprinzipien dabei sind:


  • Arbeit an der Hand / Longenarbeit in Dehnungshaltung

  • Geraderichten und Lösen des Pferdes

  • Korrekte Gymnastizierung ohne Zwang

  • Stärkung der Bauchmuskulatur durch Übergänge und korrekt gerittene Seitengänge

  • Tragen lernen vor dem Reiten – Bodenarbeit als Basis


Der Pferderücken ist nicht nur tragende Struktur, sondern auch neuralgischer Punkt für Bewegungskoordination und Schmerzverarbeitung. Wer ein Pferd reitet, das noch nicht in der Lage ist, sich selbst und den Reiter zu tragen, riskiert schwerste gesundheitliche Schäden – auch wenn das Pferd zunächst „nichts zeigt“. Schmerz wird bei Pferden lange kompensiert – bis es zu spät ist.


Wissenschaftliche Erkenntnisse: Reiten ist Belastung


Studien zeigen, dass das Gewicht des Reiters (selbst wenn es unter 15 % des Pferdegewichts liegt) biomechanisch erhebliche Auswirkungen auf die Bewegung des Pferdes hat:


  • Dr. Hilary Clayton belegt in mehreren Studien, dass der Pferderücken unter Reiterlast messbar absinkt, besonders bei untrainierten Pferden oder falscher Reiterhaltung.

  • Jean-Marie Denoix weist darauf hin, dass viele Lahmheiten und Rückenschmerzen auf fehlerhafte Reitweise oder mangelnde Tragfähigkeit zurückzuführen sind.

  • Dr. Gerd Heuschmann beschreibt in seinen Werken („Stimmen der Pferde“, „Balanceakt“) detailliert, wie das Reiten ohne vorherigen Muskelaufbau zu Trageschwäche und irreversiblen Schäden führt.


Fazit: Reiten ist Verantwortung – nicht Selbstverständlichkeit


Trageschwäche ist keine Modeerscheinung und kein modischer Begriff, sondern ein weit verbreitetes, oft übersehenes Problem im Freizeit- wie auch im Sportpferdebereich. Denn jedes Pferd muss erst lernen, einen Reiter gesund zu tragen – durch systematisches, aufbauendes Training und mit Geduld. Muskeln, Sehnen, Bänder brauchen mitunter Jahre, um sich an Belastungen anzupassen. Wer sich einfach „draufsetzt“, nur weil das Pferd es zulässt, handelt fahrlässig. Pferde kommunizieren nicht durch Worte – sie tragen still, bis sie nicht mehr können.


Ein reitbares Pferd ist kein Geschenk der Natur, sondern das Ergebnis guter Ausbildung. Und wir schulden es unseren Pferden, sie auf diese Aufgabe vorzubereiten.


Literatur & Studienhinweise:

  • Clayton, H. M. (2013). The Dynamic Horse.

  • Heuschmann, G. (2008). Balanceakt.

  • Denoix, J. M. (diverse Studien und Veröffentlichungen zur Biomechanik)

  • Haussler, K. K. (2004). Chiropractic evaluation of back pain in horses.

  • Stubbs, N. C., & Clayton, H. M. (2008). Core muscle activity in horses during different exercises.

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