Warum sind Pferde widersetzlich?
- sabinelagies
- 27. Juni
- 3 Min. Lesezeit
Wenn Steigen, Buckeln und Trägheit nicht das eigentliche Problem sind
Man sieht es immer wieder: Pferde, die steigen, bocken, durchgehen oder scheinbar triebig und faul auf jede Hilfe nur mit Widerstand reagieren. Schnell ist das Urteil gefällt: Das Pferd ist „widersetzlich“, „frech“, „testet Grenzen“ oder „hat keinen Respekt“. Und viele Reiter erleben sich plötzlich im „Kampf“ mit ihrem Pferd. Doch sind Pferde wirklich so berechnend – oder ist das ein großer Irrtum?

Das Pferd: Kein Gegner, sondern ein Spiegel
Pferde sind Fluchttiere. Ihr gesamtes Verhalten zielt darauf ab, sich sicher zu fühlen. In der Natur kostet jedes Zögern oder Missverstehen schnell das Leben – also reagieren Pferde blitzschnell auf Unbehagen, Druck oder Unklarheit.
Wenn ein Pferd sich „widersetzt“, tut es das nicht, weil es den Menschen provozieren will, sondern weil es entweder:
Schmerzen hat
etwas nicht versteht
Angst oder Stress empfindet
falsch oder zu viel trainiert wurde
überfordert oder unterfordert ist
nicht klar, sondern widersprüchlich geführt wird
Typische "Widersetzlichkeiten" und ihre Ursachen
1. Steigen
Ein extremes Verhalten, meist Ausdruck akuter Not. Häufige Ursachen:
Schmerz (z. B. Rücken, Maul, Sattel)
Überforderung oder Panik
Überschüssige Energie, wenn der Reiter versucht, es massiv zu bremsen
Zwangslagen durch grobe Einwirkung
„Viele Pferde mit muskulären Schmerzen zeigten auffällige Reaktionen wie Steigen, Buckeln oder Verweigern.“— Hall et al., 2013: Owner-reported behaviour of horses and its association with veterinary-diagnosed musculoskeletal pain https://doi.org/10.1016/j.tvjl.2012.11.010
2. Buckeln
Oft ein Entlastungsversuch – das Pferd will etwas loswerden. Auslöser:
Sattelzwang oder unpassender Sattel
Schmerzen im Rücken oder in der Hinterhand
Schlechter Reitersitz
Überschüssige Energie ohne Ausgleich
„Ein nicht passender Sattel kann schmerzhafte Druckpunkte erzeugen, die mit Widersetzlichkeiten wie Buckeln oder Abwehrverhalten unter dem Reiter einhergehen.“— Greve & Dyson, 2013: The interrelationship of saddle fit and equine behavior https://doi.org/10.1111/eve.12076
3. Triebigkeit / Faulheit
Was oft als "Unlust" gedeutet wird, ist in Wahrheit meist:
Energiesparverhalten bei Unklarheit
Frust durch Überforderung
Schmerzen oder Atemprobleme
Gelerntes Meideverhalten
Ausdruck von Resignation
„Wenn Pferde ständig mit Druck arbeiten müssen und dieser nicht nachvollziehbar oder widersprüchlich ist, zeigen sie häufiger Rückzug, Trägheit oder Frustration.“— Sankey et al., 2010: Reinforcement as a mediator of the human–horse relationship https://doi.org/10.1016/j.applanim.2010.04.007
Sind Pferde im Kampf mit dem Reiter?
Die Vorstellung, Pferde „testen“ den Reiter oder „kämpfen um die Rangordnung“, ist tief im Reitsport verankert – und gleichzeitig eine der größten Fehlannahmen. Pferde handeln nicht strategisch gegen den Menschen, sondern ausschließlich instinktiv für sich selbst.
„Die Annahme, dass Pferde durch ihre Verhaltensweisen versuchen, dominanter zu sein, ist aus lerntheoretischer Sicht nicht haltbar.“— McGreevy & McLean, 2007: Roles of learning theory and ethology in equitationhttps://doi.org/10.1016/j.jveb.2007.06.003
Was hilft wirklich? – Lösungsansätze
1. Ursachenforschung statt Symptombekämpfung
Tierärztlich abklären (Zähne, Rücken, Bewegungsapparat)
Ausrüstung kontrollieren (Sattel, Gebiss, Zäumung)
Trainingszustand und Reiterhilfen kritisch hinterfragen
„Gebisslose Zäumungen können bei manchen Pferden problematisches Verhalten vollständig beseitigen – was auf schmerzbedingte Ursachen im Maul hinweist.“— Cook, 2003: Bit-induced pain: a cause of equine welfare problems https://doi.org/10.1136/vr.152.22.684
2. Klare, ruhige Kommunikation
Pferde brauchen nachvollziehbare, eindeutige Signale
Konsequenz heißt nicht Härte – sondern Fairness
Vertrauen beginnt mit Verständnis
3. Der "Ridden Horse Ethogram"
Ein ethologisches Bewertungssystem identifizierte 24 Verhaltensweisen, die hochgradig mit Schmerz assoziiert sind – etwa Ohrenspiel, Schweifschlagen, Maulverziehen, Zungenspielen oder Zügelkontaktvermeidung.
„Pferde, die 8 oder mehr dieser Verhaltenszeichen beim Reiten zeigen, leiden mit hoher Wahrscheinlichkeit unter Schmerzen.“— Dyson et al., 2018: Development of an ethogram for a pain scoring system in ridden horses https://doi.org/10.1111/eve.12900
Fazit
Verhaltensauffälligkeiten beim Pferd sind keine Machtdemonstrationen, sondern Kommunikation – oft aus Schmerz, Stress oder Missverständnissen heraus. Studien zeigen klar: Der Großteil der sogenannten „Widersetzlichkeiten“ lässt sich auf körperliche oder psychische Ursachen zurückführen – nicht auf einen bösen Willen.
Die Lösung liegt nicht im Durchsetzen, sondern im Zuhören, Hinschauen und Verstehen. Und in der Bereitschaft, an sich selbst und seinem Umgang mit dem Pferd zu arbeiten.


