Was versteht man unter "akademischer Reitkunst" – und was nicht?
- sabinelagies
- 21. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Ein Blick auf Ursprung, Inhalte, Fehlinterpretationen und Gemeinsamkeiten mit der klassischen Reitlehre der HdV 12
Der Begriff „akademische Reitkunst“ fällt heute in vielen Kontexten: In Kursangeboten, auf Social Media, in Stallgesprächen. Doch was genau ist damit eigentlich gemeint? Woher stammt dieser Ausdruck – und was ist dran an dem Vorwurf, es handele sich bloß um „Showreiten mit Umhang“ oder eine „verkopfte“ Reitweise für Theoretiker?
Zeit für eine sachliche Einordnung. Denn wer akademische Reitkunst richtig versteht, erkennt darin eine tiefgründige und pferdegerechte Schule, die sich bewusst an die alten Meister anlehnt – aber auch häufig missverstanden wird.

Ursprung und Idee der akademischen Reitkunst
Die akademische Reitkunst wurde als Begriff vor allem durch Bent Branderup geprägt, der seit den 1990er-Jahren systematisch die Ausbildungsideen der alten Reitmeister wie Xenophon, Pluvinel, Guérinière, Steinbrecht oder Beudant aufgriff, ordnete und neu formulierte. Gemeinsam mit einer Gruppe von Gleichgesinnten gründete er die „Ritterliche Akademie“ und entwickelte ein Ausbildungssystem für Pferd und Reiter, das auf Harmonie, Verständnis, Balance und biomechanisch sinnvollem Aufbau basiert.
Die Bezeichnung „akademisch“ meint in diesem Zusammenhang nicht „hochschulmäßig“, sondern bezieht sich auf die akademischen Reitakademien vergangener Jahrhunderte – Bildungsstätten, an denen nicht nur Reiten, sondern auch Ethik, Philosophie, Musik und Rhetorik gelehrt wurden. Reiten war hier ein Ausdruck von Bildung und Charakter.
Die akademische Reitkunst will genau daran anknüpfen:Ein ganzheitlicher, durchdachter Weg der Ausbildung, bei dem der Mensch sich selbst und sein Pferd immer wieder hinterfragt – und dabei nicht auf Dressurerfolge hinarbeitet, sondern auf ein balanciertes, stolzes, sich gerne bewegendes Pferd.
Inhalte der akademischen Reitkunst
Die akademische Reitkunst:
baut auf klassischer Longenarbeit und Bodenarbeit auf – die Hilfengebung wird hier von Beginn an erklärt, verfeinert und präzisiert.
nutzt Schritt für Schritt die Handarbeit, um Stellung, Biegung, Lateralisierung und Balance zu erarbeiten.
betont die Verständlichkeit der Hilfen sowie den Dialog mit dem Pferd.
stellt die individuelle Anatomie und Psyche des Pferdes in den Vordergrund.
ist reitweisenübergreifend – es geht nicht um die äußere Form, sondern um innere Prinzipien.
Die Ausbildungsskala nach Branderup unterscheidet sich von der FN-Skala und besteht z. B. aus Takt, Losgelassenheit, Stellung, Biegung, Balance, Versammlung – als Bausteine, nicht als starres Stufenmodell.
Häufige Missverständnisse
Trotz (oder gerade wegen) ihrer Tiefe wird die akademische Reitkunst oft missverstanden oder abgewertet:
„Das ist doch nur Zirkus.“→ Nein. Zwar nutzt die akademische Reitkunst auch die Schulhaltungen wie Piaffe, Levade oder Terre-à-terre – doch nicht zur Show, sondern als Ergebnis systematischer Gymnastizierung.
„Das dauert alles ewig, man kommt nie zum Reiten.“→ Nicht ganz falsch – aber auch nicht richtig. Ja, akademische Reiter nehmen sich Zeit. Aber nicht, weil sie „nicht reiten wollen“, sondern weil eine fundierte Vorbereitung am Boden ein fairer Weg für das Pferd ist.
„Das ist doch keine Reitkunst, wenn man alles vom Boden macht.“→ Die akademische Reitkunst versteht den gesamten Weg als Reitkunst – also auch die Boden- und Handarbeit, die das Reiten vorbereitet.
Unterschied zur klassischen Reitlehre der HdV 12
Die sogenannte HdV 12 (Heeresdienstvorschrift von 1912) steht für die klassische deutsche Reitlehre und bildet bis heute das Fundament der FN-Ausbildung.
Die wichtigsten Unterschiede zur akademischen Reitkunst:
Beide Systeme haben ihre Berechtigung. Während die HdV 12 in erster Linie auf Effizienz und militärische Einsatzbereitschaft abzielte, richtet sich die akademische Reitkunst stärker auf Individualität, Nachhaltigkeit und Partnerschaft.
Gemeinsame Wurzeln – Akademische Reitkunst und die ursprüngliche HdV 12
Trotz der heute oft betonten Unterschiede darf nicht vergessen werden:
Die akademische Reitkunst und die ursprüngliche Reitlehre der HdV 12 teilen denselben Ursprung.
Beide Systeme bauen auf den Lehren der alten Meister auf – allen voran Gustav Steinbrecht, der mit seinem Werk "Gymnasium des Pferdes" bis heute als einer der einflussreichsten Autoren klassischer Reitkunst gilt. Auch andere bedeutende Reitmeister wie Guérinière oder Baucher hinterließen Spuren in beiden Systemen.
Die erste HdV 12, die 1912 als Reitvorschrift für das kaiserliche Heer erschien, wurde von militärisch ausgebildeten Offizieren erarbeitet, die meist selbst eine akademisch geprägte Reitausbildung genossen hatten. Ziel war es, ein Pferd so auszubilden, dass es den Anforderungen des Reitdienstes im Gelände gewachsen war – gesund, durchlässig, gehorsam und in sich tragfähig. Grundlage dafür war eine durchdachte Gymnastizierung nach klassischen Prinzipien.
In ihrer ursprünglichen Form war die HdV 12 daher kein Gegensatz zur akademischen Reitkunst, sondern vielmehr deren praktischer militärischer Ableger – mit klaren Strukturen, systematisch erlernbar, aber dennoch fundiert, individuell und pferdegerecht.
Die Verwässerung dieser Lehre setzte erst später ein: Mit dem Aufkommen des Turniersports in der breiten Gesellschaft, der Kommerzialisierung der Reiterei und der Vereinheitlichung der Ausbildung verlor sich mancherorts der differenzierte Blick auf das einzelne Pferd. Effizienz und Erfolg rückten in den Vordergrund, während Zeit, Tiefe und Individualität in den Hintergrund traten.
So kam es, dass sich die akademische Reitkunst als bewusste Gegenbewegung neu formierte – nicht als Widerspruch zur ursprünglichen HdV 12, sondern als Erinnerung an deren wahren Kern: Die Kunst, ein Pferd mit Verstand, Geduld und Feingefühl auszubilden.
Fazit
Die akademische Reitkunst ist keine moderne Erfindung, sondern eine Weiterführung klassischer Ideen mit neuen Mitteln. Wer sie ernsthaft betreibt, folgt einem anspruchsvollen Weg der Selbsterziehung – mit dem Ziel, dem Pferd auf Augenhöhe zu begegnen.
Sie ist keine Reitweise, sondern eine Haltung: Reiten als Kunst. Als Weg. Als Dialog. Nicht immer spektakulär, aber ehrlich – und vor allem pferdegerecht.
Tipp: Wer sich näher mit der akademischen Reitkunst beschäftigen will, findet in den Büchern von Bent Branderup, Anja Beran oder Christin Krischke einen guten Einstieg – oder besucht einen Kurs zum Zuschauen. Manchmal genügt schon ein einziger Moment echter Verbindung, um zu erkennen:
Es geht nicht um das „wie“ – sondern um das „warum“.


