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Wie sieht ein Pferd? – Das visuelle System des Pferdes und seine Bedeutung für den Umgang und das Reiten

Pferde sehen die Welt anders


Pferde sind hochsensible Fluchttiere mit einer außergewöhnlichen Wahrnehmung. Doch wie genau sehen sie ihre Umwelt? Wer versteht, wie ein Pferd sieht, kann viele Missverständnisse vermeiden – im täglichen Umgang ebenso wie im Sattel. In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf das Pferdeauge: von Blickfeld über Farbensehen bis hin zur Lichtempfindlichkeit – und was das für uns bedeutet.


Pferdeauge

1. Blickfeld – Rundumblick mit toten Winkeln


Das Auge des Pferdes ist das größte aller Landsäugetiere. An den Seiten des Kopfes angebracht, verschafft es dem Pferd ein enormes Gesichtsfeld von ca. 320° – fast ein Rundumblick. Dabei unterscheidet man:


  • Monokulares Sehen (rechts & links separat): ~ 285°

  • Binokulares Sehen (überlappend, beide Augen): ~ 55–65° vorne

  • Toter Winkel: direkt hinter dem Pferd und ein schmaler Bereich direkt vor der Stirn


📌 Bedeutung für den Umgang:

Pferde sehen Dinge seitlich besser als direkt vor sich. Wer sich lautlos von hinten nähert, befindet sich im toten Winkel – was zu Schreckreaktionen führen kann.


2. Fokussierung – Kopfbewegung statt Augenbewegung


Pferde haben eine sogenannte horizontale Retina, also eine längs ausgerichtete, lichtempfindliche Zone im Auge. Damit sehen sie die Umgebung panoramisch, aber scharf fokussieren können sie nur durch gezielte Kopfbewegung – nicht durch Augendrehung wie der Mensch.


📌 Bedeutung beim Reiten:

Ein Pferd hebt oder senkt den Kopf, um Entfernung und Details zu erkennen. Wird der Kopf durch Reiterhand oder Hilfszügel fixiert, kann das Pferd wichtige visuelle Informationen nicht mehr sinnvoll verarbeiten – es fühlt sich verunsichert oder weicht aus.


3. Farbsehen – Blau und Gelb, kein Rot


Pferde sind dichromatisch – das heißt, sie verfügen über zwei Farbrezeptoren (Zapfentypen) im Auge.


Sie sehen am besten:

  • Blau und Gelb

  • Kein echtes Rot – rot erscheint als Grauton

  • Grün wird oft mit Grau oder Beige verwechselt


📌 Bedeutung:

Sprünge mit rot-grüner Bemalung, Schilder in Waldgrün oder braune Bodenstangen können optisch verschwimmen. Pferde erkennen Kontraste besser als Farben.


4. Hell-Dunkel-Anpassung – Langsame Umstellung


Pferdeaugen sind extrem lichtempfindlich, ideal für Dämmerung. Doch die Anpassung von Hell auf Dunkel (und umgekehrt) ist viel langsamer als beim Menschen – bis zu 20 Minuten.


📌 Typisches Beispiel:

Ein Pferd scheut beim Betreten der Halle – nicht aus „Widersetzlichkeit“, sondern weil es zunächst wenig bis nichts sieht. Das gilt auch für Wasserpfützen oder Schlagschatten.


5. Bewegung sehen – stärker als statische Objekte


Pferde erkennen Bewegung extrem gut, selbst auf große Distanz. Das hat evolutionsbiologische Gründe: Als Fluchttiere war es entscheidend, Raubtiere rechtzeitig zu erkennen.


  • Kleine Bewegungen am Horizont werden deutlich wahrgenommen

  • Statische Objekte hingegen (z. B. ein Sprung oder ein Stein) sind schwerer einzuschätzen, besonders bei schwachem Kontrast oder im Schatten


📌 Bedeutung im Training:

Ein flatterndes Blatt kann das Pferd stärker beunruhigen als ein stehender Mensch. Auch beim Sprungtraining: Ein Schatten auf dem Boden wirkt für das Pferd nicht „statisch“ – er kann bedrohlich wirken.


6. Lichtempfindlichkeit und Nachtsehen


Pferde sehen bei schwachem Licht besser als Menschen, da ihre Retina mehr Stäbchen enthält. Zudem reflektiert das Tapetum lucidum (eine Schicht hinter der Netzhaut) das Licht erneut – das erklärt auch das Leuchten der Augen im Dunkeln.


📌 Bedeutung:

Nachts oder in der Dämmerung sehen Pferde mehr als wir – dafür reagieren sie empfindlicher auf plötzliche Lichtwechsel (z. B. bei Autoscheinwerfern, Stalllampen, Lichtkegeln).


7. Rechts sehen ist nicht gleich links sehen – asymmetrische Verarbeitung


Ein oft unterschätzter Aspekt des Pferdeblicks: Pferde verarbeiten visuelle Reize im rechten und linken Auge unterschiedlich. Anders als beim Menschen, der Informationen beider Augen zentral und gemeinsam verarbeitet, sind beim Pferd die beiden Gehirnhälften stärker getrennt aktiv.


Das bedeutet:

  • Das, was das Pferd mit dem rechten Auge sieht, wird primär in der linken Gehirnhälfte verarbeitet – und umgekehrt.

  • Es findet kaum automatischer Transfer der Information zwischen den beiden Gehirnhälften statt (kein sogenannter cross-modal transfer wie beim Menschen).


📌 Praktische Folge: 

Ein Pferd muss ein Objekt mit beiden Augen gesehen und verarbeitet haben, um es wirklich als bekannt zu erkennen.


Ein typisches Beispiel:Das Pferd sieht eine neue Tonne mit dem rechten Auge – bleibt ruhig. Wenige Minuten später sieht es dieselbe Tonne mit dem linken Auge – und erschrickt plötzlich. Das liegt nicht an „Widersetzlichkeit“, sondern daran, dass das Pferd die Information neu verarbeitet.


Bedeutung für den Umgang:

  • Neue Objekte oder Hindernisse beidseitig zeigen

  • Junge oder unsichere Pferde gezielt in Ruhe von beiden Seiten an neue Reize gewöhnen

  • Schreckreaktionen bei Seitenwechsel ernst nehmen – sie sind keine Unart, sondern Ausdruck einer anderen Wahrnehmung

  • Beim Reiten auf gebogener Linie bewusst beobachten, ob das Pferd zu einer Seite hin mehr zögert, scheut oder stockt – das kann mit der bevorzugten Wahrnehmungsseite zusammenhängen


Mit diesem Wissen wird deutlich: Pferde sehen nicht nur anders als wir – sie verstehen Gesehenes auch seitenunterschiedlich. Wer das berücksichtigt, schafft Vertrauen und sorgt für echte Verständigung.


Studien & Forschung


  • Hanggi & Ingersoll (2000): zeigten, dass Pferde Farbunterscheidung leisten können, bevorzugt Gelb und Blau.

  • Timney & Keil (1992): untersuchten die Tiefenwahrnehmung von Pferden und fanden, dass diese nur in der binokularen Zone (vor dem Pferd) möglich ist.

  • Wathan et al. (2016): belegen, dass Pferde Gesichtsausdrücke anderer Pferde und Menschen wahrnehmen und interpretieren können – visuelle Kommunikation ist für sie essenziell.


Fazit: Sehen aus Pferdeperspektive


Pferde sehen anders – und wir sollten das in jeder Situation berücksichtigen. Schreckverhalten, Zögern oder scheinbares "Starren" sind oft kein Ungehorsam, sondern logische Reaktionen auf visuelle Reize.


Für einen fairen Umgang bedeutet das:


  • Nie lautlos nähern – besonders von hinten

  • Kopfbewegungen zulassen, um Sehen zu ermöglichen

  • Sprünge, Stangen und Hindernisse farbkontrastreich gestalten

  • Zeit geben bei Lichtwechseln (z. B. in Halle oder Anhänger)

  • Unruhe im Gelände ernst nehmen – die Pferde sehen mehr als wir


Wer die Welt mit den Augen seines Pferdes sieht, wird vieles besser verstehen – und klüger handeln.



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