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Wie zeigen Pferde Schmerz – und warum wir ihn so oft übersehen

Aktualisiert: 30. Juni


Sie stehen in den Reithallen, auf Turnierplätzen, im Gelände oder in der Longierhalle. Manche mit hochgezogenen Nasen, zusammengekniffenen Augen, hängenden Ohren, verspannten Körpern. Andere scheinbar „brav“ und „funktionierend“ – und doch: Sie zeigen Schmerz. Pferde leiden oft stumm. Und genau das ist das Problem.


Pferd mit Schmerzen

Denn auch wenn Menschen ihre Pferde lieben – viele erkennen nicht, wenn es ihnen schlecht geht. Nicht aus böser Absicht, sondern weil das Wissen fehlt. Die traurige Wahrheit: Die meisten Reiterinnen und Reiter wissen nicht, wie ein Pferd aussieht, das Schmerzen hat.


Pferde leiden still – weil sie Fluchttiere sind


Als Fluchttiere sind Pferde darauf programmiert, Schmerzen möglichst nicht zu zeigen. Ein deutlich geschwächtes Tier ist in der Natur ein leichtes Ziel für Fressfeinde. Also verbergen Pferde ihren Zustand so lange wie möglich – besonders dann, wenn Menschen in der Nähe sind.


Was nach außen wie „Gehorsam“ oder „Routine“ wirkt, kann in Wahrheit eine tiefgreifende körperliche oder psychische Belastung sein.


Die „Horse Grimace Scale“ – Schmerz im Gesicht erkennen


Wissenschaftler haben untersucht, wie sich Schmerzen bei Pferden mimisch zeigen – und daraus die sogenannte Horse Grimace Scale (HGS) entwickelt. Sie basiert auf sechs gut erkennbaren Merkmalen im Gesicht des Pferdes, die nicht alle zusammen auftreten müssen:


  1. Zusammengekniffene Augen

  2. Spitze, zur Seite oder nach hinten rotierte Ohren

  3. Angespannte Kaumuskulatur

  4. Hervorgehobene Kiefermuskeln

  5. Nasenlöcher schmal und vertieft

  6. Spannung über Maul und Nüstern


Diese Anzeichen treten nicht nur bei akuten Verletzungen auf, sondern auch bei chronischen Schmerzen, z. B. durch schlecht sitzende Sättel, Zwangshaltungen, ruckartige Zügeleinwirkungen oder blockierte Gelenke. Studien zeigen: Schon ein paar Minuten unter schmerzauslösender Belastung reichen, um Veränderungen im Gesicht zu provozieren.


Weitere Schmerzanzeichen können sein: Abwehrverhalten (z.B. Schnappen oder Sattelzwang), Steigen, Buckeln.

📌 Wichtig: Viele dieser Signale werden mit „Unwillen“ oder „Widersetzlichkeit“ verwechselt – dabei sind sie oft Ausdruck von Schmerz!

Studien: Schmerz durch Reiten – unterschätzt und übersehen


Eine Vielzahl von Studien weist mittlerweile darauf hin, wie stark Pferde durch unsachgemäßes Reiten oder mangelhafte Ausrüstung belastet werden:


Sattelstudien (z. B. von Greve & Dyson, 2013)

Zeigen, dass über 70 % der untersuchten Sättel unpassend waren – mit direktem Zusammenhang zu Rückenproblemen, Lahmheiten und negativen Verhaltensänderungen.


Studien zur Rollkur/Hypotension

Belegen, dass extreme Beizäumung (z. B. Rollkur) den Luftstrom einschränkt, die Halsmuskulatur pathologisch verändert und Stress- sowie Schmerzzeichen auslöst (Toom et al., 2019).


Untersuchungen zur Zügelführung (z. B. König von Borstel, 2015)

Zeigen, dass schon bei „normaler“ Reitweise teils erhebliche Zugkräfte auf das Maul wirken – verbunden mit Vermeidungshaltung, Kieferproblemen und stressbedingtem Verhalten.


Warum sehen wir das nicht?


Ganz einfach: Weil es niemand gelehrt bekommt.


Reitenlernen bedeutet in vielen Reitschulen noch immer: Technik, Lektionen, Gehorsam – aber nicht Wahrnehmung, Empathie oder Schmerzverständnis. Das Verhalten von Pferden wird nach Leistung bewertet, nicht nach Ausdruck.


Ein Pferd, das „zickt“, „stolpert“, „sich entzieht“ oder „nicht durchlässt“ – könnte schlicht Schmerzen haben. Und weil das nicht erkannt wird, folgen Korrekturmaßnahmen, die das Problem verschlimmern: Schärfere Gebisse, Sperrriemen, Ausbinder, Sporen, Longieren mit Hilfszügeln.

💡 Tragisch: Was wie „Arbeitsverweigerung“ aussieht, ist oft ein stummer Hilferuf.

Was können wir tun?


  1. Schmerzsignale erkennen lernen – z. B. mit der Horse Grimace Scale oder fundierten Fortbildungen zu Pferdeverhalten und -gesundheit.

  2. Verhalten neu interpretieren – nicht vorschnell als „Ungehorsam“, sondern als möglichen Ausdruck von Unwohlsein.

  3. Regelmäßige Checks durch unabhängige Fachleute – Sattelpassform, Gebiss, Zähne, Hufe, Bewegungsanalyse.

  4. Eigene Ansprüche überdenken – nicht jedes Pferd ist reitbar oder „funktioniert“, nur weil wir das wollen.

  5. Emotionale Verantwortung übernehmen – denn wer ein Pferd liebt, muss bereit sein, sich selbst zu hinterfragen.


Fazit: Pferde sprechen – nur anders, als wir es erwarten


Pferde leiden nicht laut. Sie drücken Schmerzen durch Spannung, Mimik, Bewegungsveränderung oder Rückzug aus. Die Aufgabe jedes Menschen, der mit Pferden umgeht, ist es, hinzusehen – nicht erst, wenn Lahmheit oder Aussetzer auftreten, sondern viel früher.


Denn der wahre Pferdefreund erkennt:Ein gesenktes Ohr, ein zusammengekniffenes Auge oder ein verspanntes Maul – sind keine Kleinigkeiten. Es sind Warnzeichen. Und manchmal der einzige Weg, wie ein Pferd „Nein“ sagen kann.


📌 Infokasten: Die Horse Grimace Scale (HGS) auf einen Blick

Gesichtsmerkmal

Schmerzreaktion

Augen

Zusammengekniffen, halb geschlossen

Ohren

Spitz, nach vorn oder rückwärts gerichtet

Kaumuskulatur

Sichtbar angespannt

Kiefer

Hervorgehoben, manchmal knirschend

Nüstern

Eng, tief gezogen

Maul

Verspannt, manchmal asymmetrisch

👉 Hinweis: Die HGS wurde ursprünglich zur Einschätzung postoperativer Schmerzen entwickelt, ist aber auch bei chronischer Belastung oder falsch verstandener "Widersetzlichkeit" nützlich.

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