top of page

Wirkungsweise von Gebissen – Warum nicht das Metall, sondern der Mensch entscheidet

Kaum ein Thema in der Reiterei wird so heiß diskutiert wie die Wahl des richtigen Gebisses. Von einfach gebrochener Wassertrense bis zur doppelt gebrochenen Kandare, von anatomisch geformt bis „berührungslos“ – die Vielfalt ist enorm, die Meinungen auch. In zahlreichen Artikeln und Büchern wird über Dicke, Material, Zungenfreiheit, Hebelwirkung und Gebissform philosophiert. Doch fast alle diese Ausführungen kranken an einem entscheidenden Mangel: Sie betrachten das Gebiss isoliert – ohne den Menschen, der es führt.


Westernkandare

Nicht das Gebiss wirkt – sondern die Hand


Ein zierlicher Pferdekopf braucht meist ein schmales Gebiss, ein großer Maulspalt verträgt eher ein dickeres. Aber aus der Tatsache, dass ein Gebiss dick oder dünn ist, lässt sich keine allgemeine Aussage über seine Schärfe ableiten. Ein dünnes Gebiss kann in einer feinen, ruhigen Reiterhand angenehm sein. Ein dickes Gebiss, das sich in ein kleines Maul quetscht oder an dem ständig gezogen wird, kann hingegen großen Schmerz verursachen – selbst wenn es theoretisch „weich“ sein soll.


Was in der Theorie auch oft übersehen wird: Nicht nur der Reiter bewegt das Gebiss – auch das Pferd bewegt das Gebiss.


Wie Gebisse tatsächlich im Maul liegen


In vielen Darstellungen wird suggeriert, das Gebiss liege ruhig im Maul und verteile den Druck gleichmäßig. Doch Studien und Messungen – etwa mittels Drucksensoren und Kameras im Pferdemaul – zeigen ein anderes Bild:


  • Das Gebiss ist ständig in Bewegung, auch ohne Zügeleinwirkung – durch Kauen, Schlucken, Kopfbewegungen.

  • Bei Reitern mit unruhiger oder starker Hand entstehen kurze, aber intensive Druckspitzen – selbst mit weichen Zügeln.

  • In Wendungen oder bei ungleichmäßiger Anlehnung kippt das Gebiss oder drückt einseitig gegen Zunge und Laden.

  • Einfach gebrochene Gebisse falten sich nicht harmonisch, sondern können sich wie eine Nussknackerzange auf die Zunge legen – je nach Winkel und Spannung. Tatsächlich wurden hier per Röntgenaufnahmen schon massive Knochenverletzungen in den Pferdegaumen festgestellt (u.a. TiHo Hannover, Cook & Strasser).


Das bedeutet: Die tatsächliche Wirkung eines Gebisses hängt weniger von der Bauart als von der Art der Einwirkung und der Anatomie des Pferdes ab.


Wassertrense, Kandare und Co. – mehr als nur Metall im Maul


Eine einfache Wassertrense ist aus gutem Grund das Standardgebiss in der Grundausbildung. Sie ist einfach und zweckmäßig, erlaubt dem Pferd, sich an das Gebiss heranzutasten, ohne starke Hebelwirkung oder Scharniere, die punktuell drücken.

Die Kandare hingegen ist kein „Upgrade“, sondern ein Werkzeug für höchste Feinabstimmung – und damit für Kandarenreife. Früher wusste man: Nur ein Pferd, das losgelassen, ausbalanciert, durchlässig und auf feinste Signale sensibilisiert ist, kann mit Kandare geritten werden. Und nur ein Reiter mit einer ruhigen, gefestigten und unabhängigen Hand darf sie einsetzen.


Im Idealfall wird die Kandare nicht aktiv genutzt, sondern ihre Wirkung entfaltet sich durch das Eigengewicht der Zügel und kleinste Impulse der Reiterhand, in der Regel einhändig geführt. Wer ständig am Zügel zieht oder gar versucht, das Pferd darüber „in Form zu bringen“, hat auf der Kandare nichts verloren – das Tier spürt jeden Millimeter Hebelweg im empfindlichen Maul.


Ein Werkzeug mit Schmerzpotenzial


Jedes Gebiss – egal wie weich es in der Theorie sein mag – kann Schmerzen verursachen. Die Mundschleimhaut ist sensibel, die Zunge durchblutet, die Laden sind nur von Schleimhaut überzogene Knochen. Wer schon mal einen Tritt vors Schienbein bekommen hat, weiß, wie Knochenhaut auf Druck reagiert. Falsche Winkel, ständiger Zug oder ruckartige Bewegungen können dort Druckstellen, Prellungen, Blutergüsse oder sogar Knochenschäden hinterlassen. Dauerbelastung führt nicht selten zu Verknöcherungen im Maulbereich, die dauerhaft schmerzhaft bleiben.


Natürlich kann ein Gebiss im Notfall als Sicherheitsmittel gerechtfertigt sein – etwa beim Reiten im Gelände: Das Pferd geht durch und rennt blind auf eine vielbefahrene Straße zu. Doch in der alltäglichen Arbeit ist Schmerz niemals ein legitimes Mittel der Kommunikation.


Fazit: Nicht das Gebiss entscheidet – sondern der Mensch


Die Wirkung eines Gebisses hängt in erster Linie nicht vom Material, von der Form oder der Farbe ab – sondern von dem Menschen, der die Zügel in der Hand hält. Wer wirklich fein reiten möchte, muss lernen, seine Hilfen mit Gefühl, Takt und Verantwortung einzusetzen – unabhängig davon, welches Gebiss am Zaumzeug hängt.


Denn ein gutes Gebiss ist immer nur so gut wie die Hand, die es führt.

bottom of page