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"Feine Hand" oder Zügelzug?

Aktualisiert: 20. Juli

Der Gedanke, der Zügelzug könne ein neutraler oder sogar nützlicher Hilfsfaktor sein, ist mit aktuellen Studien klar widerlegt. Auch die sogenannten "feine Hand" des Profireiters exisitiert ganz offensichtlich nicht. Hierzu gibt es mittlerweile etliche Messdaten und wissenschaftliche Erkenntnisse.


Eines vorneweg:


Jede Form von Zug auf das Gebiss kann dem Pferd Schaden zufügen – sowohl körperlich als auch emotional. Selbst „leichte“ Spannung führt zu Unbehagen und Konfliktverhalten. Ein Pferd sucht die Hand aus eigenem Willen, nicht durch Zwang (vgl. „das Pferd tritt an die Hand heran“).


Zügelzug

Konkrete Messdaten aus Studien


  1. Reitniveau spielt kaum eine Rolle In einer schwedischen Studie mit acht Berufsreitern wurden die Zügelkräfte mit Sensoren gemessen


    • Schritt: ca. 8 N → etwa 0,8 kg pro Zügel

    • Trab: ca. 16,5 N → 1,7 kg

    • Galopp: bis zu 24 N → 2,4 kg


    Schon hier liegt der Zug oberhalb dessen, was Pferde ohne Abwehr tolerieren (0,6–1 kg, siehe Messungen Kienapfel).

    • Besonders auffällig: Rechtshänder zogen mit der rechten Hand stärker.

    • Auch der Sitztyp zählt: Leichter Sitz senkte die Zügelkraft deutlich – z. B. im Galopp von 20–24 N (Belastungssitz) auf 13–17 N (leichter Sitz).


  2. Freilauf vs. geritten – Zügelkraft steigt massiv Im Freilauf, also wenn das Pferd sich ohne Reiter und ohne Zügeleinwirkung bewegt (z. B. an der Longe oder im Bewegungsdialog), gibt es zwar keine echten Zügelkräfte, da kein direkter Kontakt zum Gebiss über den Zügel besteht. Dennoch haben Studien versucht, über spezielle Messsysteme (z. B. mit elastischem Kontakt über Dummys, Zügelattrappen oder in geführten Situationen) Referenzwerte zu ermitteln, wie hoch ein natürlicher „Kontaktwunsch“ des Pferdes ist, wenn es sich selbst anbietet.

Messdaten aus diesen Studien:

  • Kathrin Kienapfel (Ruhr-Universität Bochum) stellte fest, dass Pferde frei laufend oder longiert nur etwa 0,75 kg Zugsdruck aufbauen, wenn sie freiwillig Kontakt suchen (z. B. über eine weiche Verbindung mit Sensorzügeln oder lockeren Langzügeln).

  • In Vergleichsstudien lag der Wert bei gerittenen Pferden dagegen bei durchschnittlich 2,4 kg pro Zügel, also deutlich über dem Dreifachen


  1. Maulverletzungen bei erhöhtem Zug

    Eine Pilotstudie der Universität Helsinki konstatierte:

    • Durchschnittliche Spannungen von 3,5 kg pro Zügel verursachen Maulblutungen

    • Bei Spannungen unter 2 kg traten keine Verletzungen auf

    • Spitzen von bis zu 24 kg wurden dokumentiert!

  2. Ruhigeres Gangbild bei minimaler Spannung In einem Versuch mit drei Pferden zeigte sich:

    • 200 Gramm mehr Zügelzug führten zu einem merklich flacheren, steiferen Trab

    • Pferde «kleben förmlich am Boden» und verlieren Losgelassenheit

Fazit aus den Daten:  Selbst bei Profis mit "weicher" Hand liegt der Zügelzug meist über 1 kg – also im Pain-Zone-Bereich, dem Bereich, in dem das Pferd Schmerzen hat!


Bei Anfängern und bei springendem Zügel potenzieren sich die Werte der Profis vielfach. Zweistellige Kilozahlen werden die Norm. Die Pferde leiden erhebliche Schmerzen.


Das Pferd folgt der weich angebotenen Hand - nicht dem (massiven) Zügelzug.


Zügelkontakt entsteht aus Bewegung und Losgelassenheit, nicht aus Zug. Nach klassischer FN-Lehre:

„Das Pferd sucht die Hand, der Reiter gestattet sie.“

Drückt der Reiter konstant zu, reagiert das Pferd in der Regel nicht mit Anlehnung, sondern mit Vermeidung, Verkrampfung und Konfliktverhalten.


Fazit: Zügelzug ist keine Option – sondern ein Problem


  • Jeder Zug über 0,6–1 kg verursacht Stress, Abwehr und körperliche Schäden.

  • Zügelzug ist immer schädlich, auch bei Profis und „scheinbar sanfter“ Hand.

  • Anlehnung entsteht durch Einfühlung und Losgelassenheit, nicht durch Zwang.


Empfohlene Maßnahmen für Reiter und Trainer

  1. Zügelkraft messen – ideal: unter 1 kg, am besten um 200–800 g

  2. Immer wieder ohne Zügel reiten. In der klassischen Reitlehre ist das Zügel aus der Hand kauen lassen und "Freiheit auf Ehrenwort".

  3. Sitz optimieren – leichter, zum Schwingen befähigt, um Druck zu reduzieren

  4. Hinterhand-Übungen priorisieren – Übergänge, Aktivierung, Balance

  5. Feinheitsübungen einbauen – wie wenig braucht man wirklich?

  6. Kandare bewusst nutzen – nur mit extrem feiner Hand, steter Nachgabe, nie als Zwangssystem. Eigentlich ist sie für das einhändige Reiten am durchängenden Zügel gedacht.


Klarer Standpunkt – bewusst reiten, pferdefreundlich handeln


Zügelzug ist kein „etwas erlaubtes Mittel“ – er ist ein systematischer Fehler im Reiten, der Pferde nachhaltig blockiert, unnötig belastet und Vertrauen erschüttert. Erst die lose, fein stimulierende Zügelverbindung ermöglicht wahre Kommunikation.


„Reiten heißt, sein Pferd am losen Zügel – ja am Zwirnsfaden – zu reiten.“


Das Zitat stammt von Gustav Steinbrecht (1808–1885), dem einflussreichsten Reitmeister des 19. Jahrhunderts und Autor des Klassikers „Gymnasium des Pferdes“. Auf seinen Erkenntnissen fußen - auf dem Weg über die H.Dv. 12 – die heutigen Reitrichtlinien der FN.


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