Der Reitersitz – das Fundament jeglichen Reitens
- sabinelagies
- 20. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Der Sitz des Reiters ist weit mehr als bloßes „Oben-sitzen“: Er ist das Fundament jeder wirklichen Kommunikation mit dem Pferd. Ein ausbalancierter, geschmeidiger Sitz ermöglicht feinste Hilfen, klare Signale und echte Harmonie zwischen Reiter und Pferd.

Dennoch wird er heute oft unterschätzt oder gar vernachlässigt. Warum ist der korrekte Reitersitz so entscheidend – und warum dauert es so lange, bis man ihn wirklich beherrscht?
Warum der Sitz so wichtig ist
Der Sitz ist das zentrale Bindeglied zwischen Pferd und Reiter. Über ihn werden die meisten Hilfen gegeben – nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst. Ein ausbalancierter, losgelassener Sitz erlaubt dem Reiter, in den Bewegungen des Pferdes aufzugehen, sie zu beeinflussen oder auch bewusst nicht zu stören. Kleine Gewichtsverlagerungen, feine Muskelspannung oder -entspannung und die Lage des Körperschwerpunkts geben dem Pferd präzise Informationen darüber, was von ihm erwartet wird.
Ein korrekt eingesetzter Sitz kann das Pferd zum Anhalten, zur Wendung oder zur Versammlung bringen – ohne dass eine Zügelhilfe notwendig wäre. Kein anderes Hilfsmittel ist so natürlich, klar und fein wie der Sitz.
Ohne diesen Sitz wäre früheren Generationen die Nutzung des Pferdes gar nicht möglich gewesen: Sie mussten zu Pferd kämpfen, Zäune bauen, Rinder fangen, jagen. Zu all diesen Tätigkeiten braucht man die Hände frei: Für das Lasso, die Waffe, das Werkzeug. Die Menschen wurden zu einer Einheit mit ihrem Pferd.
Warum dauert es so lange, den Sitz zu erlernen?
Ein guter Reitersitz ist keine Frage des bloßen Wissens, sondern eine Fähigkeit, die über Körpergefühl, Gleichgewicht, Koordination und tiefes Verständnis für die Bewegung des Pferdes entwickelt wird. Diese Eigenschaften lassen sich nicht über Nacht erwerben – sie brauchen Geduld, Hingabe und beständiges Üben.
Häufige Schwierigkeiten sind:
Körperliche Asymmetrien beim Reiter (z. B. durch Büroarbeit, alte Verletzungen, schlechte Haltung).
Verspannungen oder Angst, die zu einem festgehaltenen oder unruhigen Sitz führen.
Ein fehlendes Bewegungsgefühl für den Pferderücken.
Zu früher Fokus auf Zügelhilfen, anstatt zuerst Sitz und Balance zu schulen.
Der Sitz ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamisches Gleichgewicht. Seine Entwicklung gleicht dem Erlernen eines Instruments oder einer Tanzform – mit dem Unterschied, dass das "Instrument" lebt und mit dem Reiter interagiert.
Der Sitz als primäre Hilfe – Kommunikation über den Körperschwerpunkt
Ein bedeutender Teil der Hilfengebung erfolgt über den eigenen Schwerpunkt: Das Verlagern des Gewichtes nach innen in einer Wendung, das „Wegatmen“ in den Halt, das bewusste Einsinken ins Pferd für mehr Versammlung. Solche Signale sind für das Pferd klar und natürlich – vorausgesetzt, der Reiter ist in seinem Sitz ausbalanciert und unabhängig von den Zügeln.
Reitet der Reiter korrekt, nimmt das Pferd diese kleinen Veränderungen fast sofort wahr. Diese Kommunikation ist so subtil, dass sie von außen kaum sichtbar ist – und doch ist sie die Grundlage der klassischen Reitkunst.
Warum wird der Sitz heute kaum noch richtig gelehrt?
Viele moderne Reitausbildungen setzen den Fokus stark auf Technik, auf Lektionen, auf Turniervorbereitung. Dabei wird oft vergessen, dass ohne stabilen, losgelassenen Sitz keine korrekte Hilfengebung möglich ist. Viel zu früh werden Aufgaben geritten, für die der Reiter sitztechnisch noch nicht bereit ist. Die Folge sind Sitzfehler und (massive) Verspannungen beim Pferd.
Früher hingegen wurde oft monatelang nur an der Longe am Sitz gearbeitet, bevor ein Reiter selbstständig reiten durfte. Diese Geduld und der Fokus auf das Fundament fehlen heute häufig.
Hinzu kommt der wachsende Einfluss von Hilfsmitteln wie Ausbindern, Hilfszügeln oder mechanischen Reizen – die vermeintlich schneller zum Ziel führen, langfristig aber nur Symptome überdecken.
Was sagen die alten Meister?
Die klassischen Reitmeister waren sich einig: Der Sitz ist das A und O.
François Robichon de La Guérinière schrieb im 18. Jahrhundert: „Ein guter Sitz ist die Grundlage aller Reitkunst.“
Gustav Steinbrecht, der Autor des berühmten Werks „Das Gymnasium des Pferdes“, betonte: „Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade – aber zuerst sitze!“
Nuno Oliveira, einer der großen Reitmeister des 20. Jahrhunderts, sagte: „Ein guter Sitz ist still – nicht steif, sondern lebendig.“
Diese Meister wussten: Ohne korrekten Sitz gibt es keine feine Hilfengebung, keine Harmonie, keine Kunst.
Leichter Sitz und Entlastungssitz – wann und warum?
Neben dem ausbalancierten Grundsitz gibt es Situationen, in denen der Reiter sich bewusst aus dem Sattel hebt: etwa im leichten Sitz (z. B. beim Springen, bei Rennen oder auf schnellen Geländestrecken) oder im Entlastungssitz (z. B. bei Jungpferden oder Pferden mit Rückenproblemen). Beide dienen dazu, den Pferderücken zu entlasten und mehr Bewegungsfreiheit zu ermöglichen.
Auch diese Sitzformen erfordern Balance, Unabhängigkeit und Körperspannung. Durch das stabile Fundament ist aber gerade der leichte Sitz für Anfänger oft leichter zu erlernen. Dadurch können sie bereits in schnelleren Gangarten reiten und nebenbei die nötige Rumpfmuskulatur für den Grundsitz aufbauen. Wir haben heutzutage bedingt durch das moderne Leben oft einfach nicht mehr die Muskulatur früherer Generationen.
Fazit: Der Sitz ist keine Nebensache – er ist das Zentrum. Wer seinen Sitz vernachlässigt, beraubt sich der Möglichkeit zu wirklicher Kommunikation mit dem Pferd. Es lohnt sich, hier Zeit, Geduld und Mühe zu investieren. Denn aus einem guten Sitz erwächst stille, feine, ehrliche Reitkunst, verstanden als harmonische Einheit zwischen Reiter und Pferd.


