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Der zügelunabhängige Sitz – Schlüssel zur Harmonie zwischen Reiter und Pferd

Ein zügelunabhängiger Sitz gilt als das Fundament guten Reitens – und das völlig zu Recht. Wer sein Pferd gesund erhalten, fein reiten und auf Augenhöhe mit ihm kommunizieren möchte, kommt nicht daran vorbei, sich intensiv mit dem eigenen Sitz auseinanderzusetzen. Doch was bedeutet „zügelunabhängig“ eigentlich genau? Warum ist er so zentral für das Wohlbefinden und die Bewegungsfreiheit des Pferdes – und was passiert, wenn der Sitz nicht unabhängig ist?


zügelunabhängiger Sitz

Was bedeutet „zügelunabhängiger Sitz“?


Ein zügelunabhängiger Sitz bedeutet, dass der Reiter in der Lage ist, sein Gleichgewicht vollständig über seinen Körper zu halten – ohne sich an den Zügeln festzuhalten oder sie zur Stabilisation zu nutzen. Die Zügel dienen ausschließlich der feinen Kommunikation mit dem Pferdemaul, nicht zur Unterstützung des Reiters.


Ein unabhängiger Sitz ist locker, aufgerichtet und ausbalanciert. Er folgt der Bewegung des Pferdes, ohne sie zu stören. Die Hände bleiben ruhig, während Becken und Körpermitte die Bewegung aufnehmen und weitergeben. Die Einwirkung erfolgt über Gewicht und Schenkel, nicht über Zerren, Ziehen oder „Halten“.


Was passiert, wenn der Sitz nicht unabhängig ist?


Sobald ein Reiter das Gleichgewicht verliert – zum Beispiel in einer Wendung, beim Übergang oder über dem Sprung – sucht der Körper instinktiv nach Halt. Und der liegt oft auf der Hand: wortwörtlich. Die Zügel werden zum Festhalten benutzt. Das Resultat: Ein „springender“ Zügel. Die Hand ist nicht mehr still und fein, sondern ruckt, zupft oder zieht unbewusst.


Das hat weitreichende Konsequenzen – vor allem für das Pferd.


Kettenreaktion im Pferdekörper: Vom Zügel bis zur Lendenwirbelsäule


Ein springender, unruhiger Zügel wirkt direkt auf das Maul des Pferdes. Das Pferdemaul ist nicht einfach „Zügelanschluss“, sondern hochsensibel innerviert und eng mit dem gesamten Bewegungs- und Spannungssystem des Körpers verbunden.


Kiefer- und Zungenbeinverspannung:

Unruhige Zügelsignale führen zu Verspannungen im Zungenbein- und Kieferbereich. Das Pferd kann den Unterkiefer nicht mehr locker lassen, beginnt zu knirschen, zeigt Maulabwehr (Zunge herausstrecken, Öffnen des Mauls) oder verkrampft sich innerlich. Da das Zungenbein über Faszien mit dem Genick und über Muskelketten mit dem Brustbein und Schultergürtel verbunden ist, hat eine Blockade hier Auswirkungen auf den gesamten Bewegungsapparat.


Rückentätigkeit blockiert:

Die Bewegung der Wirbelsäule wird gedämpft. Die Rückenlinie („dorsale Kette“) spannt sich an, der Rücken kommt nicht mehr hoch, sondern drückt weg. Der Schwung aus der Hinterhand kann nicht mehr durch den Körper schwingen. Die Folge: Taktfehler, Steifheit, Stolpern – oder ein Pferd, das sich dem Reiten entzieht.


Psychische Auswirkungen:

Auch mental entsteht Stress. Pferde sind darauf ausgelegt, sich möglichst energieeffizient und schmerzfrei zu bewegen. Wird ihnen das durch störende Reiterhände verwehrt, fühlen sie sich bedroht, werden unwillig, buckeln oder ziehen sich zurück. Nicht selten resultiert das in dem fälschlichen Eindruck, das Pferd sei „faul“, „zickig“ oder „widersetzlich“.


Wenn die Hand „mitreitet“ – was passiert beim Leichtraben?


Ein häufiges Problem in der Reitausbildung ist das Mitnehmen der Zügelhand bei Körperbewegungen, insbesondere beim Leichtraben. Viele Reiter sind so sehr mit dem rhythmischen Auf und Ab der Bewegung beschäftigt, dass ihre Hände – meist unbewusst – im selben Takt mitwippen. Statt ruhig über dem Widerrist zu stehen, „springen“ sie bei jedem Aufstehen mit nach oben oder ziehen im Absitzen nach hinten.


Diese scheinbar kleine Bewegung hat jedoch gravierende Folgen:


1. Störimpulse im Maul:

Das Pferd erfährt bei jedem Takt eine ruckartige, rhythmisch wiederkehrende Spannung am Gebiss. So kann es den Kontakt nicht mehr als konstante Verbindung wahrnehmen, sondern wird verunsichert und beginnt, sich entweder zu entziehen (Kopf hoch, Maul auf) oder mit Gegendruck zu reagieren (Zügel anspannen, „fest werden“ im Genick).


2. Kein Vertrauen zur Reiterhand:

Für eine weiche Anlehnung muss das Pferd Vertrauen zur Reiterhand entwickeln. Dieses Vertrauen basiert auf Konstanz und Feinheit. Wenn der Zügel ständig durch unbewusstes Mitwippen Impulse gibt, wird der Zügel zum Störsender statt zum Kommunikationsmittel.


3. Rückkoppelung in die Verspannungskette:

Die Folge ist oft eine Verspannung, die wieder über das Maul und das Zungenbein die bereits erwähnte dorsale Muskelkette betrifft – der Rücken blockiert, der Takt wird unklar, das Pferd kann die Hinterhand nicht mehr durchschwingen lassen.


4. Verlust der Losgelassenheit:

Ein Pferd, das bei jedem Trabtritt mit einem unruhigen Zügel konfrontiert wird, kann keine Losgelassenheit entwickeln. Und ohne Losgelassenheit sind weder Schwung, noch korrekte Anlehnung oder gar Versammlung möglich – unabhängig von Reitweise oder Ausbildungsstand.


Tipp: Stell dir beim Leichtraben vor, deine Hände ruhen auf einer Tischplatte über dem Widerrist – sie bleiben ruhig, während dein Becken schwingt. Eine elastische Verbindung über Ellbogen und Schultern puffert die Bewegung ab, sodass die Zügel still bleiben – auch wenn dein Körper arbeitet.


Studienlage zur Auswirkung der Reiterhand


Studien wie die von König von Borstel et al. (2009) zeigen, dass inkonstante Zügelführung und zu starke Zügeleinwirkung zu einer erhöhten Herzfrequenz, Muskelverspannungen und Stressanzeichen beim Pferd führen. Auch die Untersuchung von Lesimple & Hausberger (2014) legt nahe, dass Pferde unter unausbalancierten Reitern signifikant mehr Abwehrverhalten zeigen.


Wie lernt man einen zügelunabhängigen Sitz?


1. Sitzschulung ohne Zügel

An der Longe oder geführt, ohne Zügel in der Hand, erlebt der Reiter, wie sich der eigene Körper unabhängig vom Zügelkontakt balancieren lässt. Übungen mit ausgebreiteten Armen, geschlossenen Augen, wechselnder Beinposition oder Ball spielen fördern das Körperbewusstsein.


2. Zügelbrücken oder Halsriemeneinsatz

Das Reiten mit Halsriemen oder mit einer Zügelbrücke hilft dabei, die Hand ruhig zu halten und nicht unbewusst nach vorne oder zur Seite zu ziehen.


3. Bewegungsanalytisches Training

Geräte wie der Franklin Ball oder Sitzschulungen nach Eckart Meyners oder dem „Centered Riding“-Ansatz (Sally Swift) helfen, Bewegungsmuster zu korrigieren und Körperwahrnehmung zu entwickeln.


4. Videoanalyse und externe Augen

Ein Reitlehrer mit gutem Auge oder eine Videoanalyse kann helfen, unbewusste Muster sichtbar zu machen. Viele Reiter sind sich gar nicht bewusst, dass sie sich mit der Hand abstützen.


Fazit


Ein zügelunabhängiger Sitz ist kein Luxus, sondern Grundvoraussetzung für pferdegerechtes Reiten. Nur wer sich unabhängig vom Zügel balancieren kann, kommuniziert fair, präzise und fein mit seinem Pferd. Denn ein Pferd, das nicht gegen den Zügel anspannen muss, sondern losgelassen im Takt schwingen kann, bleibt gesund – körperlich wie mental.

Der Weg dahin braucht Zeit, Geduld und vor allem Selbsterkenntnis. Aber er lohnt sich – für das Pferd, den Reiter und die gemeinsame Partnerschaft.


Quellen:


  • König von Borstel, U., et al. (2009). Are there differences in behavioral and physiological indicators of stress in horses ridden with versus without a bit? Journal of Veterinary Behavior.

  • Lesimple, C., & Hausberger, M. (2014). How accurate are we at assessing others’ well-being? The example of welfare assessment in horses. Frontiers in Psychology.

  • Galli, K. M., et al. (2015). Impact of rein tension and rider asymmetry on equine thoracolumbar movement. Equine Veterinary Journal.

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