Geraderichten – Warum jedes Reitpferd davon profitiert
- sabinelagies
- 20. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Geraderichten – das klingt erst einmal technisch. Vielleicht sogar ein bisschen nach Turnier-Dressur. Doch tatsächlich ist die Geraderichtung eine der grundlegendsten und wichtigsten Aufgaben im Pferdetraining – ganz unabhängig von Disziplin, Reitweise oder Ausbildungsstand. Sie ist keine Kür, sondern ein Gesundheitskonzept.
In diesem Artikel erfährst du:
was „Geraderichten“ eigentlich bedeutet,
warum es für jedes Pferd wichtig ist – nicht nur für Dressurreiter,
wie sich die natürliche Schiefe zeigt und was sie mit Reitplätzen, Ecken und dem Gelände zu tun hat,
und warum das Ziel kein „perfekt symmetrisches Pferd“, sondern ein ausbalanciertes, gesundes Reitpferd ist.

1) Was ist Geraderichten?
Geraderichten bedeutet:
Ein Pferd so zu trainieren, dass es auf beiden Händen alle Beine gleichmäßig belastet, sich gleichmäßig biegt und gerade unter dem Reiter läuft – also weder mit der Hinterhand noch mit der Schulter ausweicht, noch sich "in Kurven legt".
Das klingt einfach – ist aber ziemlich komplex. Denn kein Pferd ist von Natur aus gerade.
Die natürliche Schiefe – ein biologisches Phänomen
Jedes Pferd ist von Geburt an schief. Diese Schiefe zeigt sich z. B. so:
Die Hinterhand tritt nicht direkt in die Spur der Vorhand, sondern leicht versetzt.
Das Pferd biegt sich zu einer Seite leichter, auf der anderen fällt das Stellen und Biegen schwer.
Der Rumpf ist leicht verdreht – häufig kippt er nach innen, der Bauch schwingt nach außen.
Die Beinpaare sind asymmetrisch belastet, was zu einseitiger Abnutzung und Verspannungen führen kann.
Beispiel:
Beim nicht gerade gerichteten Pferd wird immer die innere Schulter überlastet – in Relation zum schiebenden (aktiveren) Hinterbein.
Das lässt sich so erklären:
Die meisten Pferde sind von Natur aus hohl auf der rechten Seite. Das bedeutet: Sie biegen sich nach rechts leichter, stellen sich dort leichter, und ihre linke Hinterhand schiebt stärker.
Die rechte Hinterhand ist oft schwächer oder weicht nach außen aus (aus dem Pferdegewicht heraus, also ins Innere eines Kreisbogens z.B.). Dadurch wird das Pferd auf gebogener Linie nach innen gedrückt.
Folgen:
Wenn z. B. das linke Hinterbein mehr schiebt und das rechte Hinterbein nach außen (aus dem Gewicht heraus) tritt, kippt der Rumpf leicht nach innen, d.h. er rotiert mit dem Bauch nach außen. Die rechte Schulter (also die innere Schulter auf rechter Hand) trägt dann überproportional viel Gewicht.
➡ Die innere Schulter wird zur (überlasteten) Stütze für ein schief laufendes, unausbalanciertes Pferd.
Diese Schiefe ist in der Natur nicht schlimm – aber wenn man ein Pferd reitet (oder es in engen Bahnen longiert oder ausbildet), wird diese Asymmetrie schnell zum Problem.
2) Warum ist Geraderichten so wichtig – besonders in der Reitbahn?
In der freien Natur kann ein schiefes Pferd wunderbar leben. Es trägt keinen Reiter und läuft überwiegend geradeaus. Aber sobald wir Menschen Einfluss auf seinen Bewegungsablauf nehmen – also vor allem beim Reiten – verstärken wir die Schiefe oft ungewollt.
Besonders in Reitbahnen und Hallen:
Viele Kurven, Ecken und Wendungen fordern das Pferd einseitig – oft wird die schwache Seite schwächer, die starke Seite stärker. Ohne es zu merken reiten die meisten Reiter lieber auf der Hand, die einfacher ist. Das ist die, auf der die hohle Seite ist.
In der Schiefe trägt eine Hinterhandseite mehr, die andere entzieht sich der Arbeit.
Das Pferd gerät aus dem Gleichgewicht, kompensiert mit Muskelverspannung, schiefem Rücken oder falsch belasteten Hufen.
Das Risiko von Sehnenschäden, Lahmheiten, Rückenproblemen oder Rittigkeitsproblemen steigt.
Deshalb ist Geraderichten kein Luxus, sondern eine Voraussetzung für gesunderhaltendes Reiten.
3) Warum man früher junge Pferde erst geradeaus geritten hat
In der klassischen Ausbildung war es üblich, junge Pferde erst einmal kilometerweit im Gelände geradeaus zu reiten. Und das hatte gute Gründe:
Gerade Wege fördern die Balance ohne ständige Biegung.
Das Pferd lernt, den Reiter auszubalancieren, ohne in ständiger Schiefe überfordert zu werden.
Die Hinterhand lernt schieben, der Rumpf wird getragen, die Muskulatur baut sich gleichmäßig auf.
Kurvenarbeit kommt erst (viel) später – wenn das Pferd Kraft, Koordination und Körpergefühl entwickelt hat. Genau das fehlt heute vielen Pferden, die früh nahezu ausschließlich auf Zirkeln und in Hallen/Plätzen mit Ecken bewegt werden.
4) Warum Fahrpferde oft gerader sind
Ein interessanter Vergleich: Fahrpferde laufen von Anfang an zwischen zwei festen Leinen, im Brustblattgeschirr, meist auf geraden Wegen.
Dadurch:
werden sie gezwungen, in der Spur zu laufen,
die Schulterkontrolle ist von Beginn an gegeben,
es gibt keine Schenkel- oder Gewichtsimpulse, die unbewusst schief machen könnten.
Darum sind viele Fahrpferde beim Umstieg ins Reiten oft gerader, stabiler und klarer in ihrer Bewegung als Reitpferde gleichen Alters.
5) Braucht wirklich jeder Reiter Geraderichtung?
Kurz gesagt: Ja – jeder, der ein Pferd reitet, longiert oder ausbildet, braucht ein Verständnis für Geraderichtung.
Denn:
Ohne Geraderichtung ist Gymnastizierung nicht möglich.
Ohne Geraderichtung leidet die Gesundheit des Pferdes.
Ohne Geraderichtung ist feines Reiten nicht umsetzbar – das Pferd fällt über die Schulter, eilt, driftet oder blockiert.
Ob du nun dressurambitioniert bist, ins Gelände reitest oder Freizeitreiten auf dem Platz betreibst:
Ein Pferd in Balance – das sich gerade und locker bewegt – macht mehr Freude, hält länger und arbeitet bereitwilliger mit.
6) Fazit: Geraderichten ist Gesundheitsvorsorge
Geraderichten ist keine hohe Dressurkunst, sondern elementare Gymnastik. Es ist kein Ziel, sondern ein Prozess, der mit dem ersten Reiten beginnt und nie ganz endet. Dabei geht es nicht um perfekte Symmetrie, sondern um funktionale Ausgeglichenheit – damit das Pferd den Reiter gesunderhaltend tragen kann.
Deshalb:
Beobachte dein Pferd genau.
Wechsle häufig die Hand.
Reite nicht nur in der Bahn, sondern auch draußen.
Arbeite an Schulterkontrolle, Biegung, Spur und Lastaufnahme.
Und denke daran: Geraderichten beginnt im Kopf – bei dir.
💡 Tipp zum Schluss: Probiere mal einen Spaziergang mit deinem Pferd über lange, gerade Wege – am besten im Schritt, mit ruhigem Tempo. Schau, wie es sich bewegt. Ist der Rumpf stabil? Tritt es gerade? Weicht es aus? Geraderichtung beginnt manchmal mit einem einfachen: Ich sehe dich.
Möchtest du konkrete Übungen zum Geraderichten? Oder suchst du ein individuelles Trainingskonzept für dein Pferd? Dann melde dich gern bei uns – wir begleiten euch auf eurem Weg in die Balance.


