Vom Allrounder zum Spezialisten - und wieder zurück?
- sabinelagies
- 22. Juni
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Juli
Wie aus der Kriegspferdausbildung die modernen Reitdisziplinen entstanden
Heute sind Pferde für viele Menschen treue Freizeitpartner, elegante Sportler oder sanfte Therapeuten. Doch über viele Jahrhunderte waren sie vor allem eines: Unverzichtbare Kameraden im Krieg. Sie trugen Soldaten in die Schlacht, transportierten Lasten, überquerten unwegsames Gelände – und retteten dabei oft Leben. Die Anforderungen an ein Soldatenpferd waren immens – körperlich wie mental. Interessanterweise finden sich viele dieser Anforderungen heute in den Disziplinen der modernen Turnierpferdereiterei wieder. Was einst jeder vierbeinige Krieger können musste, ist heute aufgeteilt in einzelne Sportarten nach den Regeln der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN). Ihre Reitvorschriften gründen auf der H.Dv. 12 - der Heeresdienstvorschrift 12 für die Kavallerie.

Nervenstärke, Mut und Gehorsam – früher Überlebensnotwendigkeit, heute Turnieranforderung
Ein Militärpferd musste schussfest sein. Es durfte bei Gewehrsalven, Kanonendonner oder chaotischen Gefechten nicht in Panik verfallen. Dazu kamen Menschenmengen, laute Kommandos, flatternde Fahnen, klirrende Rüstungen oder später Maschinenlärm.
Heute trainiert man Ähnliches unter dem Begriff "Gelassenheitstraining" oder "Desensibilisierung". In der Praxis ist es jedoch in vielen Sportarten eher in den Hintergrund gerückt – mit der Folge, dass manche Pferde im Turniereinsatz oder beim Geländeritt schon auf eine Plastiktüte oder ein flatterndes Band überreagieren. Dabei war Nervenstärke einst Grundvoraussetzung – und ist heute oft nicht einmal Prüfungsbestandteil.
Was viele auch vergessen: Sie ist Trainingssache. Das Pferd als Fluchttier rennt immer erstmal weg.
Trittsicherheit, Ausdauer und vielseitige Geländegängigkeit – aus Notwendigkeit wurde Vielseitigkeitssport
Das Soldatenpferd musste durch Sümpfe, Wälder, Gräben, Hänge und Matsch – oft bei schlechtem Wetter, unter Zeitdruck und mit schwerer Ausrüstung. Es musste Reiter tragen, dabei schwimmen, klettern, steigen, durchhalten. Diese Fähigkeiten sind heute – teils stark technisiert – in der Disziplin Vielseitigkeitsreiten (Military) erhalten geblieben.
Doch auch hier gilt: Was früher Standard war, ist heute Spezialdisziplin. Viele Sport- und Freizeitreiter haben nie gelernt, wie man ein Pferd sicher durchs Gelände reitet, es auf unebenen Böden balanciert oder Hindernisse in der Natur überwindet. Das Geländetraining, früher Lebensversicherung, ist heute oft auf den Vielseitigkeitssport beschränkt – zum Schaden der soliden Grundausbildung.
Gehorsamkeit, Präzision und Lektionen – aus Drill wird Dressur
Ein weiteres zentrales Element der Militärreiterei war die absolute Kontrolle über das Pferd, selbst in dichtester Formation. Pferde mussten in Linien nebeneinander gehen, sich auf kleinstem Raum wenden, präzise reagieren und ihren Reiter „lesen“ können.
Daraus entwickelte sich die klassische Dressur – heute olympische Disziplin. Übungen wie Schulterherein, Traversalen oder fliegende Wechsel waren nicht zur Zierde gedacht, sondern dienten der Biegsamkeit, Kontrolle und Mobilität im Ernstfall. Was früher jeder Soldat reiten musste, ist heute sportliche Königsdisziplin - und entsprechend hochdotiert. Mit all den negativen Folgen, die das mit sich bringt: Geht es wirklich noch um das Training von Durchlässigkeit und Partnerschaft – oder längst nur um äußere Show auf Kosten der Pferde?
Springen und Hindernisse – vom Graben zur Parcoursstange
Ein Soldatenpferd musste natürliche und künstliche Hindernisse überwinden – Zäune, Gräben, Barrikaden, Schützengräben. Daraus entwickelte sich der Springsport. Der Springreiter von heute trainiert ähnliche Bewegungsabläufe, aber unter völlig anderen Bedingungen. Technik, Geschwindigkeit, Wendigkeit und Sprungkraft stehen im Vordergrund. All diese braucht man auch im Gelände. Aber würde ein modernes Springpferd das im Gelände wirklich noch können?
Lastenträger, Zieher, Helfer – heute im Fahrsport erhalten
Nicht jedes Soldatenpferd war ausschließlich Reitpferd. Viele zogen auch noch Wagen, Kanonen, Nachschub oder transportierten Verwundete. Sie mussten stark, ausdauernd und gehorsam sein – ganz ohne Reiterhilfe. Diese Art des Einsatzes lebt heute weiter im Fahrsport, der nicht nur Technik und Tempo, sondern auch Zusammenarbeit zwischen Mensch, Pferd und Wagen erfordert.
Kamerad auf vier Hufen – heute meist Freizeitpartner
Der vielleicht wichtigste Aspekt: Das Soldatenpferd war mehr als ein Reittier. Es war Lebensversicherung, Kamerad, Fluchtfahrzeug, Lastenträger und Orientierungshilfe. Der Reiter vertraute ihm – und umgekehrt. Diese tiefe Bindung findet sich heute im Freizeitbereich wieder, wo Pferd und Mensch oft viele Jahre gemeinsam verbringen und emotionale Verbindungen aufbauen, die weit über Training oder Sport hinausgehen.
Fazit: Was früher jedes Pferd können musste, ist heute Spezialaufgabe
Die Anforderungen an Soldatenpferde waren extrem – doch sie waren ganzheitlich. Ein gutes Pferd musste ausdauernd, gehorsam, trittsicher, nervenstark, sprungfähig und gehfreudig sein – alles gleichzeitig. Heute ist daraus ein vielfältiger Pferdesport geworden, in dem diese Fähigkeiten in einzelne Disziplinen aufgeteilt wurden: Dressur, Springen, Vielseitigkeit, Fahren, Westernreiten, Distanzreiten.
Doch mit der Spezialisierung ging auch ein Teil der ganzheitlichen Ausbildung verloren. Scheutraining, vielseitiges Geländetraining, Lastenarbeit oder Nervenstärke im Alltag werden nur noch selten trainiert und noch seltener gelehrt – dabei hätten gerade diese Fähigkeiten oft große Relevanz im heutigen Reitalltag. Die Pferde hätten mehr Spaß an ihrem Alltag und ihre Gesundheit würde gefördert.


