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Was kennzeichnet einen guten Sitz beim Reiten?

Noch immer kursieren klare, rein ästhetisch geprägte Vorstellungen davon, wie ein guter Reitersitz auszusehen hat: aufrecht, mit geradem Rücken, langen, tief hängenden Beinen, die fast bis zur Pferdeflanke reichen, und langen Armen, die locker bis zum Widerrist gleiten.


Dieses Idealbild stammt nicht selten aus einer Zeit, in der vor allem große, durchtrainierte Männer in Kavalleriesätteln ritten – Männer, die aufgrund ihrer Anatomie und Körperproportionen diesem Bild auch leicht entsprechen konnten.


Doch was ist mit Reiterinnen, die 1,60 oder 1,65 m groß sind, mit einem typischen weiblichen Körperbau – kürzeren Oberschenkeln, breiterem Becken, runden Formen? Können sie jemals diesem Sitzideal entsprechen? Und viel wichtiger: Müssen sie das überhaupt?


Die klare Antwort lautet: Nein. Denn ein guter Sitz definiert sich nicht über die äußere Erscheinung, sondern über seine Funktion.


Reitersitz

Der Sitz – nicht (nur) schön, sondern vor allem funktional


Ein guter Reitersitz ist funktional, nicht modellhaft. Er folgt keinem statischen Schönheitsideal, sondern ermöglicht es dem Reiter, harmonisch, ausbalanciert und unabhängig zu sitzen und mit dem Pferd zu kommunizieren. Die Optik ist zweitrangig – entscheidend ist die Wirkung.


Ein funktionaler Sitz bedeutet:

  • Der Reiter ist zentriert im Sattel, sein Schwerpunkt befindet sichauf einer Linie mit dem Schwerpunkt des Pferdes.

  • Die Bewegung des Pferdes wird nicht gestört, sondern aufgenommen und begleitet.

  • Der Reiter bleibt beweglich und elastisch, ohne zu klammern oder sich festzuhalten.

  • Er kann gezielt einwirken, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten.

  • Er fühlt, was unter ihm passiert – jede Verschiebung, jeden Taktfehler, jede asymmetrische Spannung.


Was ein guter Sitz bewirkt


Der Sitz ist das Fundament des gesamten Reitens. Ein instabiler oder verspannter Sitz führt automatisch zu groberen Hilfen, Missverständnissen und letztlich auch zu Verspannungen oder gar Schmerzen beim Pferd.


Ein guter Sitz hingegen:

  • erlaubt präzise, fast unsichtbare Hilfen,

  • vermittelt dem Pferd Sicherheit und Klarheit,

  • fördert die Losgelassenheit und Balance,

  • unterstützt die Bewegungsdynamik des Pferdes, statt sie zu blockieren.


Kennzeichen eines guten Sitzes


Ein Reiter mit gutem Sitz erkennt man nicht an der Länge seiner Beine oder der Steifigkeit seines Rückens, sondern an seiner Wahrnehmung:


  • Er spürt, wann sich welcher Fuß des Pferdes wohin bewegt.

  • Er nimmt die Rotation des Rumpfes wahr, insbesondere in der Brustwirbelsäule des Pferdes.

  • Er merkt sofort, wenn sich Spannung aufbaut – ob mental oder muskulär.

  • Er fühlt Balanceprobleme und reagiert intuitiv und fein.

  • Er kann seinen Körperschwerpunkt sekundenschnell anpassen, um das Pferd in seiner Bewegung zu unterstützen.


Diese Fähigkeiten setzen eine hohe Körperwahrnehmung, Beweglichkeit und Unabhängigkeit der einzelnen Körperpartien voraus – keine starre, statische Haltung.


Studienlage: Was sagt die Wissenschaft?


Moderne Studien zur Biomechanik des Reitens belegen, dass Reiter mit einem besseren Sitz:

  • weniger asymmetrisch einwirken, was zu einer verbesserten Taktreinheit des Pferdes führt (Peham et al., 2001),

  • weniger Druckspitzen im Sattel erzeugen, was Rückenschäden beim Pferd vorbeugt (von Peinen et al., 2009),

  • und durch einen ausbalancierten Sitz die Bewegungsökonomie des Pferdes verbessern (Lagarde et al., 2005).


Ein weiterer Befund: Je besser die Rumpfstabilität des Reiters, desto klarer kann er auf Bewegungsänderungen des Pferdes reagieren (Terada, 2006). Dies setzt nicht auf äußerliche Symmetrie, sondern auf funktionelle Stabilität und Reaktionsschnelligkeit.


Fazit: Raus aus dem Schönheitsbild – rein in die Funktion


Ein guter Sitz lässt sich nicht im Spiegel erkennen, sondern im Gefühl und in der Wirkung auf das Pferd. Nicht die äußere Form entscheidet, sondern die Fähigkeit, in Harmonie mit dem Pferd zu schwingen, zu fühlen und fein abgestimmt zu handeln. Dabei ist kein Körper zu klein, zu weich oder zu rund, um einen ausgezeichneten Reitersitz zu entwickeln – sofern er beweglich, geschult und bewusst eingesetzt wird.


Quellen (Auswahl):

  • Peham, C. et al. (2001): "The influence of the rider on the movement of the horse."

  • von Peinen, K. et al. (2009): "Back movement in the horse: Basic principles and influence of the rider."

  • Lagarde, J. et al. (2005): "Coordination dynamics of the horse-rider system."

  • Terada, K. (2006): "Comparison of the center of pressure trajectory during riding trot between advanced and novice riders."

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