Welche körperlichen Voraussetzungen braucht der klassische Dressursitz?
- sabinelagies
- 30. Juni
- 3 Min. Lesezeit
Der klassische Dressursitz – anmutig, ausbalanciert, feinfühlig – ist das Fundament einer pferdegerechten Reitweise. Doch so leicht, wie es bei geübten Reitern aussieht, ist es nicht. Der elegante Sitz ist nicht angeboren, sondern das Ergebnis jahrelangen Trainings – nicht nur des Reiters, sondern auch seines Körpers. In Zeiten zunehmender Inaktivität stellt sich die Frage: Haben moderne Menschen überhaupt noch die körperlichen Voraussetzungen, um einen korrekten Dressursitz zu erlernen?

1. Der klassische Dressursitz – was ist das überhaupt?
Der klassische Dressursitz folgt klaren biomechanischen Prinzipien. Er basiert auf einer tiefen, losgelassenen Verbindung mit dem Pferd, bei der die Körperachsen (Ohr-Schulter-Hüfte-Ferse) eine senkrechte Linie bilden. Der Reiter sitzt im Lot, aufrecht, aber nicht steif, mit weichen Gelenken und unabhängig arbeitenden Körperteilen. Er ist in der Lage, Bewegungsimpulse des Pferdes aufzunehmen, umzuleiten und dosiert Einfluss zu nehmen – mit minimalen Hilfen.
Dafür braucht es jedoch mehr als nur „aufrecht sitzen“. Ein funktionaler Dressursitz ist die sichtbare Spitze eines umfassenden Zusammenspiels von Gleichgewicht, Koordination, Körperspannung, Flexibilität, Kraft und feiner Wahrnehmung.
2. Die Realität: Sitzende Lebensweise und ihre Folgen
Unsere moderne Lebensweise ist geprägt von Bewegungsmangel. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse (2022) sitzen Erwachsene in Deutschland durchschnittlich über 9 Stunden pro Tag – bei Jugendlichen sind es teils über 10 Stunden. Das wirkt sich drastisch auf den Bewegungsapparat aus:
Verkürzte Hüftbeuger (M. iliopsoas) durch langes Sitzen verhindern ein freies Mitschwingen des Beckens – essenziell für den Dressursitz.
Abgeschwächte Rumpfmuskulatur erschwert die Stabilisation des Oberkörpers.
Verspannte Schultern und ein vorgeschobener Kopf stören das Gleichgewicht und die feine Handführung.
Reduzierte propriozeptive Fähigkeiten: Langes Sitzen führt zu einer schlechteren Tiefenwahrnehmung, was das Gespür für Gleichgewicht und Bewegung massiv beeinträchtigt.
Eingeschränkte Mobilität in Sprunggelenken, Hüften und Brustwirbelsäule behindert die feine Stoßdämpfung im Sitz.
Eine 2017 veröffentlichte Studie in der Zeitschrift Frontiers in Physiology zeigt, dass Bewegungsmangel nicht nur Muskelkraft reduziert, sondern auch die inter- und intramuskuläre Koordination erheblich verschlechtert – also genau die Fähigkeiten, die für den Dressursitz unerlässlich sind.
3. Wie lange dauert es, einen funktionalen Sitz zu entwickeln?
Der Weg zum ausbalancierten, unabhängigen Sitz ist lang – jahrelang, nicht selten über ein Jahrzehnt, wenn man hohe Reitkunst anstrebt. Dabei reicht bloßes Reiten nicht aus. Es braucht gezielte Sitzschulung, Körperarbeit (z. B. Feldenkrais, Franklin-Methode, Pilates), Mobilitätstraining und mentale Präsenz.
Ein funktionaler Reitersitz entsteht durch:
Wiederholung und Neuroplastizität: Das Gehirn muss neue Bewegungsmuster lernen und festigen.
Körpereigene Rückmeldeschleifen (sensorisches Feedback), die durch Übungen mit instabilen Unterlagen, verbundenen Augen oder visuelle Rückmeldungen geschärft werden können.
Cross-Training außerhalb des Reitens (z. B. Yoga, Tanz, Schwimmen), das Körperbewusstsein und Koordination schult.
Wie Studien zur motorischen Entwicklung zeigen, dauert es 500 bis 5.000 Wiederholungen, um eine neue Bewegung stabil zu erlernen – und bis zu 25.000, um sie zu automatisieren. Ein losgelassener, funktionaler Sitz ist also keine Frage des Talents, sondern des Trainings.
4. Die unterschätzte Rolle der Psyche – was Angst mit dem Sitz macht
Ein oft unterschätzter Faktor beim Reiten ist die Psyche. Angst, sei sie bewusst oder unbewusst, wirkt direkt auf den Körper:
Sympathikus-Aktivierung: Bei Angst wird der Körper in Alarmbereitschaft versetzt – Herzschlag, Muskeltonus und Atemfrequenz steigen.
Erhöhte Muskelspannung: Der Körper „macht sich fest“, was einen losgelassenen Sitz verhindert.
Flachatmung: Diese reduziert die Beweglichkeit im Brustkorb und wirkt sich negativ auf das Gleichgewicht aus.
Eingeschränkte Wahrnehmung: Angst verengt die Aufmerksamkeit – feine Signale des Pferdes gehen verloren.
Eine Studie von Keeling et al. (2009, Journal of Veterinary Behavior) konnte zeigen, dass gestresste Reiter auf ihre Pferde übertragbaren Stress ausüben – der sich wiederum auf das Verhalten und die Rittigkeit auswirkt. Ein Teufelskreis, der auch die Sitzqualität massiv beeinflusst.
Mentaltraining, Atemtechniken, Visualisierungen und ein geschützter Lernrahmen sind daher zentrale Bausteine im Sitztraining. Es geht nicht nur um „Fitness“, sondern um mentale Stabilität und Körpervertrauen.
5. Fazit: Klassischer Sitz = Körperbeherrschung + Körperverstehen
Der klassische Dressursitz ist kein Produkt bloßen Reitens, sondern die Spitze eines bewussten körperlichen und psychischen Trainingsprozesses. Wer aus einer modernen Lebensweise mit einseitigen Bewegungsmustern kommt, muss zunächst Grundlagenarbeit am eigenen Körper leisten – Mobilität, Kraft, Koordination, Gleichgewicht, Körperwahrnehmung.
Das Ziel ist nicht, möglichst schnell „gut auszusehen“, sondern authentisch in Balance zu sein, um mit dem Pferd in feine Kommunikation zu treten. Der Weg dahin ist lang und individuell – aber mit Geduld, Disziplin und Körperverständnis für jeden erreichbar. Und: Er sieht immer gut aus aber nicht immer gleich, den Menschen haben einen ganz unterschiedlichen Körperbau.
Literatur & Studien:
Techniker Krankenkasse (2022): Bewegungsstudie "Beweg Dich, Deutschland!"
Keeling et al. (2009): The effect of a calming procedure on the behaviour of horses during loading and transport, J Vet Behav 4(5): pp. 268–275
Muehlbauer et al. (2017): Effects of balance training on balance performance in youth and young adults: A systematic review and meta-analysis, Sports Medicine, 47(12)
Franklin, E. (2003): Dynamic Alignment Through Imagery
Weigelt, M. et al. (2012): Motorisches Lernen, Springer Verlag


