top of page

Wie lange dauert es, reiten zu lernen?

Eine der häufigsten Fragen, die Reitanfänger:innen stellen, ist: „Wie lange dauert es, bis man reiten kann?“ Doch um diese Frage zu beantworten, müssen wir erst klären, was „reiten können“ überhaupt bedeutet – denn es geht nicht nur darum, sich im Sattel zu halten, sondern darum, ein Pferd so zu begleiten, dass es sich losgelassen, gesund und vertrauensvoll bewegen kann.


ree

Was bedeutet „reiten können“?


Reiten können heißt nicht, oben zu bleiben, zu lenken und irgendwie im Takt mitzuschwingen. Reiten bedeutet, den Pferdekörper so fein und harmonisch zu beeinflussen, dass sich das Pferd unter dem Reiter besser bewegt als ohne – mit aktiver Hinterhand, gehobenem Rumpf und freiem Rücken.


Das setzt weit mehr voraus als Gleichgewicht und Mut. Es braucht:


  • Körpergefühl und -beherrschung,

  • einen stabilen, aber dynamischen, losgelassener Sitz,

  • unabhängige Hilfengebung,

  • Verständnis für biomechanische Zusammenhänge

  • und nicht zuletzt: Empathie für das Pferd.


Die drei Phasen des Reitenlernens


Der Weg zum guten Reiten lässt sich grob in drei Entwicklungsstufen unterteilen:


1. Das Pferd stören

In der Anfangszeit kann der Reiter seinen Körper kaum kontrollieren: Er klammert mit den Beinen, fällt dem Pferd in den Rücken, bremst ungewollt mit der Hand, verspannt sich, ist im Takt zu spät oder zu früh. Das Pferd muss kompensieren, was der Reiter stört – und das ist für das Pferd körperlich wie mental anstrengend.


2. Das Pferd nicht stören

Mit besserem Gleichgewicht, mehr Gefühl und losgelasseneren Bewegungen beginnt der Reiter, das Pferd nicht mehr zu behindern. Er bewegt sich im Takt mit, gibt Impulse bewusster und lässt sie wieder los. Das Pferd kann sich freier bewegen, bleibt aber noch weitgehend alleinverantwortlich für die Bewegung.


3. Das Pferd beeinflussen können

Erst jetzt ist der Reiter in der Lage, das Pferd gezielt zu formen, zu fördern und zu gymnastizieren – mit feiner Hilfengebung, einem unabhängigen Sitz und dem Wissen, wie er das Pferd durch seine Einwirkung gesünder und leistungsfähiger macht.


Diese dritte Stufe zu erreichen dauert – bei regelmäßigem Unterricht – mehrere Jahre. Wer ein Leben lang weiterlernt, wird mit jedem Jahr differenzierter, leiser, wirkungsvoller.


Warum der Sitz alles ist


Der Sitz ist das Fundament des Reitens. Ein schlechter Sitz stört immer – selbst wenn die Hilfen formal „richtig“ sind. Denn das Pferd fühlt jede Schiefe, jede Verspannung, jede unbewusste Bewegung des Reiters.


Ein guter Sitz hingegen:

  • erlaubt dem Pferd, den Rücken loszulassen,

  • hilft dem Pferd, im Gleichgewicht zu bleiben,

  • macht feine Hilfen überhaupt erst möglich.


Ohne guten Sitz keine feine Einwirkung – und ohne feine Einwirkung kein gesunderhaltendes Reiten.


Warum zu frühes oder dauerhaftes Reiten im Dressursitz dem Pferd schadet


Viele Anfänger werden von Beginn an in den Dressursitz gebracht – mit durchgedrücktem Rücken, tiefen Fersen und Kontakt zum Maul. Das sieht vielleicht „nach Reiten aus“, überfordert aber den Körper des Reiters – und damit den des Pferdes.


Denn:

  • Ein Reiter mit instabilem Dressursitz fällt dem Pferd in den Rücken – besonders im Trab.

  • Er verliert das Gleichgewicht und hält sich an den Zügeln fest. Mit verheerenden Folgen für das Pferd.

  • Das Pferd wird im Rücken fest, beginnt auszuweichen, zu kompensieren – und nimmt Schaden.


Wie lange hält ein Pferd das aus?


Wenn ein Reitanfänger über Monate oder Jahre im Dressursitz übt, ohne den nötigen Sitz oder Unterstützung durch einen Trainer zu haben, kann das Pferd:


  • Rückenschmerzen entwickeln,

  • Widersetzlichkeiten zeigen (Kopfschlagen, Eile, Schweifschlagen),

  • im schlimmsten Fall Lahmheiten oder Rittigkeitsprobleme bekommen.


Je nach Pferd, Haltung und Training kann es nach wenigen Monaten zu ersten Problemen kommen – spätestens nach 1–2 Jahren regelmäßigen Reitens mit instabilem Reiter sind Schäden oft messbar (z. B. über Thermografie, Palpation oder Röntgen).


Warum der leichte Sitz eine echte Entlastung ist


Gerade in der Anfangszeit ist der leichte Sitz (also das Reiten mit nach vorne geneigtem Oberkörper, Gesäß aus dem Sattel, Gewicht über den Steigbügeln) eine enorme Entlastung – für Pferd und Reiter.


Vorteile für das Pferd:

  • Kein Druck auf die Rückenmuskulatur,

  • keine unkontrollierten Sitzbewegungen im Trab,

  • mehr Raum für die natürliche Schwingung des Rückens.


Vorteile für den Reiter:

  • Leichteres Gleichgewicht,

  • bessere Bein- und Rumpfstabilität,

  • schnellere Schulung der Balance ohne Störung des Pferdes.


Der Dressursitz sollte in der Anfangsphase nur in ganz kurzen, bewussten Einheiten geübt werden – idealerweise an der Longe auf einem sehr weit ausgebildeten Pferd, damit der Reiter sich ganz auf seine eigene Körperkontrolle konzentrieren kann, ohne lenken oder antreiben zu müssen.


Fazit: Reitenlernen braucht Zeit – und es verläuft in Stufen


Reiten zu lernen ist ein jahrelanger Prozess, bei dem zuerst das eigene Gleichgewicht, dann die feine Einwirkung und schließlich das Reiten mit Gefühl und Einfluss geschult werden.


Ein Pferd dauerhaft mit zu wenig Können zu reiten, ist nicht harmlos – es überfordert das Pferd körperlich und mental. Reitenlernen muss also pferdegerecht organisiert werden, mit einem Fokus auf:


  • Sitzschulung (am besten an der Longe auf einem sehr weit ausgebildeten Pferd),

  • Reiten im leichten Sitz,

  • langsame Gewöhnung an den Dressursitz,

  • und einem Verständnis dafür, wie viel Einfluss man wann auf das Pferd nehmen sollte – und wann besser noch nicht.


Denn: Gutes Reiten beginnt mit dem Bemühen, das Pferd nicht zu stören. Und es gipfelt darin, es besser zu machen.


Studienübersicht: Was die Forschung über das Reitenlernen sagt


1. Münz et al. (2014)

„The influence of riding skill on rein tension and force exerted on the horse’s mouth“

  • Diese Studie zeigte, dass unerfahrene Reiter signifikant höhere und unregelmäßigere Zügeleinwirkung haben.

  • Fortgeschrittene Reiter arbeiten mit geringerer, gleichmäßigerer Hand – was das Pferdemaul und die gesamte Oberlinie deutlich entlastet.

  • ➤ Fazit: Schlechte Zügelführung durch mangelnde Körperkontrolle ist ein Belastungsfaktor für das Pferd.


2. Byström et al. (2009)

„Influence of rider weight and saddle fit on physiological parameters in horses“

  • Zeigt, dass falsche Belastung (z. B. durch unausbalancierten Sitz oder schlecht passende Sättel) zu erhöhter Muskelspannung im Rücken und zu Schmerzen führen kann.

  • ➤ Besonders problematisch bei Reitanfängern ohne stabilen, losgelassenen Sitz.


3. Rhodin et al. (2005)

„Head and neck position affects vertical ground reaction forces in the horse“

  • Zeigt, wie sich die Haltung des Pferdes (und damit die Einwirkung des Reiters) auf die Kraftverteilung in den Gliedmaßen und die Rückenmechanik auswirkt.

  • ➤ Ein ungeschulter Reiter, der das Pferd in eine falsche Haltung bringt, verändert die Biomechanik negativ.


4. Helene Roche (2016)

„Effect of rider asymmetry on equine locomotion: a pilot study“

  • Schon geringe Asymmetrien im Reitersitz können beim Pferd zu einseitiger Belastung, Taktunreinheiten und Muskelverspannungen führen.

  • ➤ Unerfahrene Reiter sind fast immer asymmetrisch – deshalb sollte frühzeitig am Sitz gearbeitet werden.


5. König von Borstel et al. (2010)

„Assessing the horse–rider relationship: The role of equine behavior and physiology in the evaluation of equestrian skill“

  • Verhaltensbeobachtungen und Herzfrequenzmessungen zeigen, dass Pferde auf Anfängerreiter mit Stressreaktionen (z. B. erhöhtem Puls, vermehrtem Kauen, Abwehrverhalten) reagieren.

  • ➤ Die Qualität des Reiters hat direkten Einfluss auf das emotionale Wohlbefinden des Pferdes.


Fazit aus der Forschung:


  • Unerfahrene Reiter beeinträchtigen das Pferd durch einen unausbalancierten Sitz, unklare oder harte Hilfen und eine asymmetrische Belastung.

  • Pferde müssen diese Defizite kompensieren, was langfristig zu Schmerzen, Taktfehlern oder Abwehrverhalten führen kann.

  • Ein strukturierter Lernweg mit Sitzschulung, Longenarbeit und leichtem Sitz hilft, das Pferd in der Reiterausbildung nicht zu überlasten.

bottom of page